Jurga im Urlaub, Teil 8: In Gedanken an die Heimat
Es ist etwas abgekühlt in Tel Aviv. Nicht mehr 35 Grad im Schatten, sondern nur noch 30. Anlass für mich, den Strand aufzusuchen – im Grunde das erste Mal, sieht man einmal vom Treffen mit Irit am ersten Tag ab. Ja, ich war eine Stunde lang am Strand und habe auch im Mittelmeer gebadet. Hier das erste Mal; allerdings auch das letzte Mal. Denn morgen in der sog. Herrgottsfrühe geht es wieder nach Hause. Ab nach good old Germany. Der Urlaub ist zu Ende, und damit auch diese schnuckelige kleine Serie auf xtranews. Ausgerechnet jetzt, wo sich die Temperatur einigermaßen erträglichen Verhältnissen annähert.
Auch die Gedanken schweifen wieder Richtung Heimat. Zumindest bei meiner Tochter. Sie hatte zwar den Strand und vor allem das Bad im Meer deutlich länger (und natürlich öfter) genossen als ich, doch dann hatte sie die eMail einer guten Freundin auf den Boden der deutschen Tatsachen zurückgeholt. In ihrem Urlaubsgruß von hier muss sie wohl so etwas geschrieben haben wie „wäre toll, wenn Du auch hier wärest“, um darauf die Antwort zu erhalten, sie, also die Freundin meiner Tochter, würde niemals nach Israel reisen. Stattdessen solle sie, also meine Tochter, sich einmal Gedanken über das Schicksal der armen Menschen machen. Wir würden doch hier kaum etwas zu sehen bekommen.
In der Tat: auf einen Besuch der besetzten Gebiete hatte ich verzichtet. Das mache ich nicht – jedenfalls nicht mit Mietwagen und vor allem nicht mit einem Kind dabei. Allerdings weniger wegen der vermeintlichen Willkür der Besatzer als wegen der Formen des vermeintlich legitimen Widerstands. Dennoch: was die angesprochenen „armen Menschen“ betrifft, die gibt es hier. Und ein bisschen was haben wir auch hier zu sehen bekommen. Hier in Tel Aviv, weil wir nicht in einem der feinen Hotels direkt am Strandboulevard gewohnt haben, sondern etwa einen Kilometer landeinwärts auf der Dizengoff-Straße, der längsten Straße der Stadt, einer bedeutenden Geschäftsstraße.
Meine Tochter hat auf dieser Straße das erste Mal Menschen bewusst wahrgenommen, die so arm waren, dass sie auf der Straße übernachten mussten. Wohnungslose, Obdachlose oder eben, wie wir umgangssprachlich zu sagen pflegen, „Penner“. Vermutlich jüdische Penner. Der Weg von unserem Appartement zum Strand führt durch das Botschaftsviertel, das gut bestückt ist mit Haute-Couture-Boutiquen. Doch bei den armen Menschen, die der Freundin meiner Tochter so am Herzen liegen, dürfte kaum an die gescheiterten Menschen gedacht worden sein, die auf der Dizengoff-Straße zu nächtigen pflegen.
Arme Menschen sind nämlich qua definitione arabische Menschen. Aber auch nicht irgendwelche arabische Menschen, also nicht etwa die Millionen, die in den Ghettos am Rande der Mega-City Kairo unter dem Existenzminimum vor sich hin vegetieren. Arme Menschen im Nahen Osten sind auch nicht die Homosexuellen, die im Falle eines Outings mit einer schweren Strafe, in der Regel mit dem Tod rechnen müssen, und die sich glücklich schätzen, die Heimat verlassen zu können, um in Israel um Asyl bitten zu können. Und die verschwindende Minderheit der emanzipierten Frauen in arabischen Ländern ist tatsächlich nicht arm, dafür aber nicht wenig gefährdet.
Arme Menschen sind im Nahen Osten qua definitione arabische Menschen, aber nur diejenigen, die auch dann einen relativ hohen Lebensstandard haben, wenn sie nicht gerade in Dubai oder Kuwait oder so wohnen. Nämlich die Araber, die in Israel leben. Deutlich niedriger ist der Lebensstandard in den besetzten Gebieten, im Westjordanland aber immer noch deutlich höher als in allen arabischen Nachbarländern. Der gegenwärtige ökonomische Boom auf der Westbank tut sein übriges. Im Gazastreifen ist bekanntlich die Situation komplizierter.
Die israelische Blockade des Gazastreifens und die Terrorherrschaft der Hamas, die gnadenlos alle Anhänger der Fatah / PLO zu töten trachtet, sind Themen für sich. Und, ja: die Menschen in Gaza sind arm. Doch niemand hungert im Gazastreifen, was man freilich für das etwas weiter westlich gelegene Kairo wirklich nicht behaupten kann. Die Versorgung ist sichergestellt; Israel liefert allen Strom, auch den Großteil des sonstigen Energiebedarfs. So ist es auch während des zehntätigen Krieges zum Jahreswechsel 2008 / 2009 geschehen.
Es geht mir nicht darum, die – wie das israelische Militär sie genannt hat – „Operation gegossenes Blei“ zu rechtfertigen. Das hatte ich damals nicht getan; warum sollte ich es heute tun?! Es geht mir schon gar nicht darum, die israelische Besatzungspolitik zu rechtfertigen. Im Gegenteil: was in Hebron geschieht, ist, wie ich neulich schrieb, Irrsinn. Mir gibt es nur sehr zu denken, wenn ein begabtes Mädchen aus gebildetem Elternhaus – plötzlich und unerwartet – in aggressiver Form meint mitteilen zu müssen, sie würde niemals nach Israel reisen – wegen der „armen Menschen“.
Ja, die Menschen sind – gemessen an europäischen Verhältnissen – recht arm. Was könnte die ganze Region blühen, wenn nur endlich dieser beschissene Nahostkonflikt beendet würde! Und, verflixt nochmal: warum weiß dieses begabte Mädchen aus gebildetem Hause nicht, dass es der arabischen Bevölkerung insgesamt nirgendwo besser geht als in Israel, selbst in den besetzten Gebieten? Dabei ist das Elternhaus durchaus politisch. Vater und Mutter sind beide Mitglieder einer Partei. „Bündnis 90 / Die Grünen“ heißt sie.
Wären diese Eltern Linke, die Wahrscheinlichkeit läge noch etwas höher, dass das Kind so verzogen ist. In einem sozial- oder christdemokratischen Elternhaus wäre die Chance vermutlich etwas geringer. Sind die Eltern parteipolitisch nicht gebunden, was ja der Regelfall ist, weiß man einer neuen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge einigermaßen genau, wie die Chancen verteilt sind.
Der Anteil der Bevölkerung, der antisemitisch eingestellt ist und dies offen bei allen drei Aussagen dieser Dimension zu erkennen gibt, liegt weiterhin bei knapp 10 %. Jede einzelne der antisemitischen Aussagen des Fragebogens findet mit 15 % und mehr der Bevölkerung noch mehr Anhänger/innen als alle drei zusammen: Vorstellungen, dass der „Einfluss der Juden zu groß“ ist, dass „Juden mehr als andere mit üblen Tricks arbeiten“ und dass „sie etwas Besonderes und Eigentümliches an sich haben und nicht so recht zu uns passen“ sind keineswegs Ansichten am Rand der Gesellschaft.