Über die Kunst des Ausblendens
Weitgehend offen geblieben ist, was als zivilisiert gelten kann. Eine Klärung ist auch nicht ein für allemal leistbar. Jede Antwort bliebe historisch befangen, übrigens auch ein wissenschaftlicher Anspruch, allgemeine Theorien über Zivilisation oder Kultur zu bilden, unabhängig vom geschichtlich vorfindbaren Sprachverhalten. Betroffen sind nicht nur die wissenschaftstheoretischen Haltungen und die Theorien, auch die Empirie.
Es ist nicht erforderlich, den populär gewordenen Konstruktivismus anzuführen, der in seiner extremen Ausprägung von einer Erfindung der Welt ausgeht: Eine solche Annahme ist im Rahmen der Theorie und ihrer Daten gar nicht möglich, weil der genutzte Begriff Erfindung eine relationale Auskunft gibt, die nicht verifizierbar ist. Etwas als Erfundenes auszugeben, setzt einen Vergleich mit Nicht-Erfundenem voraus. Bleibt hingegen nichts anderes übrig, als zu sagen, dass Menschen nur im Rahmen ihrer Wahrnehmungsorgane und Messinstrumente Welt erfahren können, ist man nicht viel weiter als es bereits die Aufkärung war, mithin Hume, der in Deutschland viel zu wenig beachtet wurde, und Kant, der eine rationalistische Aufarbeitung anbot.
Um die Fortschritte der Neurowissenschaften zu integrieren, Nachweise darüber, wie in Gehirnen Wahrnehmungen gebildet und Entscheidungen getroffen werden, ist auch kein vergleichsweise abgeschwächter philosophischer Konstruktivismus nötig. Das Neue beträfe allein die neurowissenschaftlichen Ergebnisse. Etwas wenig im Vergleich, denn die Resultate lassen sich ebenso in eine analytische, eine pragmatische Philosophie oder in eine Diskursphilosophie einbeziehen, die weitaus mehr zu bieten haben. Roths Erläuterungen (z.B. in: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, 2001) bereiten die neurowissenschaftlichen Resultate lediglich auf. Dadurch wird das angeführte Werk jedoch nicht uninteressant, im Gegenteil.
Sprache ist nicht weniger ein Erkenntnismittel als z.B. ein Messinstrument. Es wird nichts dadurch gewonnen, einen allgemeinen Begriff ‘Prozess der Zivilisation’ auszubilden, der, weil er geschichtlich unbekannt ist, untergeschoben wird und die Verhaltensweisen im geschichtlichen Zusammenhang als unbewusst ausgeben muss (vgl.: Über den Prozess der Zivilisation, Bd.2, S. 312-313, 1976).
Vorausgesetzt wird, dass man in der westlichen Welt in der Zivilisation lebte. Eine Thematisierung entfällt. Methodisch ebenso fragwürdig sind die Deutungen. Psychoanalytische Interpretationen lassen sich anhand von dezidierten Fallbeschreibungen durchaus vornehmen, aber eine geschichtliche Interpretation anhand von Etiketten, dort beschriebenen Verhaltensanforderungen durchzuführen, geht weit, sehr weit darüber hinaus. Dass es gesellschaftliche Anmahnungen gab, die sich letztlich darauf reduzieren lassen, Verhaltensfolgen innerhalb von komplexer werden Gesellschaften einzukalkulieren, eine Handlungsrationalität auszubilden, sagt wenig aus und ist im sprachlichen Kontext äußerst dürftig. Solche Vorgänge lassen sich ebenso in Familien-Clans relativ einfacher Gesellschaften beobachten, speziell beim Aufwachsen der Kindern. Auch dort ist es nicht üblich, in das Essen zu scheißen. Also: Worum geht es überhaupt?
Wird die Bildung einer Zivilisation zur Aufgabe, historisch lässt die französische Revolution und ihre Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte anführen, dann muss Deutschland passen. Dort präferierte man Kultur, zumindest bis in die angezettelten Weltkriege hinein und noch darüber hinaus. Weshalb sollte man all den Detailreichtum zugunsten einer spekulativen und formalisierten Betrachtungsweise ausblenden?
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Die essayistische Notiz “Über die Kunst des Ausblendens” steht im Kontext eines Projektes über Kultur. Der erste Text der Reihe lautet: Der Award, der vorgängige Kultur und Zivilisation, der nächste Anti-egalitäre Tendenzen des ‚Geistigen‘ in der Kultur.
Drei weitere Texte sind bereits veröffentlicht aber noch nicht eingereiht: Musik ist eine Hure, Das Ende einer Ära und Wenn Träume wahr werden, ist der Alptraum nicht weit