Gegenwärtig schwer zu bremsen: Der kranke Mann Europas
Er glaubt es wirklich. Er glaubt es allen Ernstes. Er sitzt im Biergarten und empfindet keinerlei Scham, wenn er die Story, die ihm in Funk, Fernsehen und Zeitung rauf und runter erzählt wurde, endlich mit eigenen Worten zum Besten geben kann. Er kommt sich dabei ziemlich schlau vor. Das fühlt sich gut an. Aber er kann sich schon auch richtig darüber aufregen. Darüber, wie sich all die Pleite-Griechen darin eingerichtet haben, auf unsere Kosten zu leben. Wie sich inzwischen auch die Spanier und in Kürze bestimmt auch die Italiener daran ein Beispiel nehmen. Und dann unsere Politiker, denen einfach der Mumm fehlt, den Südländern mal anständig die Meinung zu geigen! Und vor allem: den Worten dann auch Taten folgen zu lassen.
Er glaubt das wirklich. Er glaubt allen Ernstes, dass die Staaten, die wir gewohnt sind, „unsere Urlaubsländer“ zu nennen, wirtschaftlich deshalb am Boden liegen, weil ihre Bewohner – sozusagen mentalitätsbedingt – nicht einen mit der deutschen Gründlichkeit und dem deutschen Fleiß vergleichbaren Arbeitseinsatz zustande bringen können. So dass sie, solange sie dieselbe Währung haben wie wir, zusammenbrechen müssen. Es sei denn, wir – von unseren Politikern offenbar für blöd gehaltenen – Deutsche zahlen, bis wir schwarz werden bzw. bis wir genauso bankrott sind wie diese Lebenskünstler vom Mittelmeer. Er glaubt das wirklich. Er, ein deutscher Mann. In manchen Fällen auch eine deutsche Frau. Jung oder alt. Arm oder reich. Arbeitslos oder fast ein Top-Manager.
Er glaubt wirklich felsenfest daran. Immerhin hat er sich informiert. Deshalb weiß er, dass Deutschland im Grunde das einzige Land in Europa ist, wo es wirtschaftlich noch so einigermaßen läuft. Sogar bei den Holländern will es nicht mehr so richtig. Wir, und zwar nur wir, sind hier die Konjunkturlokomotive. Und außerhalb Europas? Die Amerikaner – kommen und kommen einfach nicht auf die Beine. Die Arbeitslosigkeit schlimmer als bei uns. Die Japaner – mein Gott, was hatten wir uns früher vor denen gefürchtet?! Und jetzt: aus der Traum! In China gehen die Wachstumsraten dramatisch zurück. Man muss bedenken, auf welchem Niveau das bei denen alles passiert.
Langer Rede kurzer Sinn. Wenn es überhaupt noch irgendwo auf dieser Welt vorwärts geht, dann in Deutschland. Er hat sich schlau gemacht, der Deutsche. Aber, sagt er, so stark Deutschland auch ist, wir können nicht die ganze Welt retten. So ähnlich hatte das auch die Merkel gesagt. Der Seehofer sagt immer, wenn der Rettungssanitäter selbst ins Krankenhaus muss, wäre keiner mehr da, der helfen kann. Deshalb sollen die Alle uns mal bloß nicht überfordern. Absolut logisch ist das; jeder muss das einsehen. Aber das hört ja nicht auf, das Ausland. Kürzlich hat eine Ratingagentur – nun gut, alles Amerikaner… Doch dass unter diesen ganzen Umständen der Ausblick sogar für Deutschland schlecht ist, ist nun wirklich kein Wunder. Der Deutsche weiß Bescheid.
Was er nicht mehr so genau weiß, der Deutsche, bzw. woran er sich nicht mehr so genau erinnern kann, ist die Tatsache, dass so vor etwa zehn Jahren – aber auch noch vor sieben Jahren – die Welt der Wirtschaft noch ganz anders ausgesehen hatte. Als am 1. Januar 2002 der Euro endgültig als Bargeld eingeführt wurde, war es um die deutsche Wirtschaft grottenschlecht bestellt. Deutschland galt im In- und Ausland als „der kranke Mann Europas“. Weltweit benutzten die Zeitungen und Zeitschriften diesen Begriff, den übrigens der Chef des Münchener Ifo-Instituts, Professor Hans-Werner Sinn, in die Debatte eingeführt hatte. Genau dieser Sinn, der kürzlich etwa 200 deutsche Wirtschaftwissenschaftler dazu bewegen konnte, Stellung gegen die Euro-Rettungspolitik zu beziehen.
Im Jahr 2004 verstieg sich Sinn zu folgender Bestandsaufnahme: „Was ist nur geschehen? Mut und Fortune scheinen Deutschland zu verlassen. Die Wirtschaft stagniert, die Hiobsbotschaften häufen sich. Monat für Monat gibt es neue Pleite-Rekorde, viele Unternehmen stecken in einer schweren Krise, die Arbeitslosigkeit nimmt immer bedrohlichere Ausmaße an – und dennoch drängen die Armen der Welt in unser Land. Ein europäischer Nachbar nach dem anderen zieht beim Pro-Kopf-Einkommen an uns vorbei. Deutschland ist der kranke Mann Europas, ist nur noch Schlusslicht beim Wachstum, außerstande, mit seinen Nachbarn mitzuhalten.“ Die Ist-Beschreibung: „der kranke Mann Europas“. Die damalige Datenlage: unstreitig, wie beschrieben.
Allein bei der Frage „Was ist nur geschehen?“ blieb der Talkshowprofessor etwas nebulös. Mehr als „Mut und Fortune scheinen Deutschland zu verlassen“ kam dann auch nicht. Warum ausgerechnet das von Natur aus und / oder von seiner Geschichte her tüchtigste und tapferste Volk Europas über Jahre – nämlich bis etwa 2005 –dermaßen in der Grütze hing, ließ Sinn an dieser Stelle offen. Aber klar: Sinn war einer der geistigen Wegbereiter der sog. “Agendapolitik“. Allein kräftige Kostensenkungen, so Sinn, konnten Deutschland wieder vom Irrweg der „Basar-Ökonomie“ abbringen. Das Lohnniveau und die Soziallasten waren seiner Meinung nach zu hoch, als dass sich Arbeit in Deutschland noch hätte lohnen können. Deutschland sei, so lautete Sinns Credo, die internationale Wettbewerbsfähigkeit verlorengegangen.
In der Tat hatte zu Beginn dieses Jahrhunderts niemand angenommen, dass hierzulande wieder einmal Wachstumsraten von mehr als einem Prozent erzielt werden könnten, oder gar, dass die Massenarbeitslosigkeit deutlich gesenkt werden könnte. Der kranke Mann Europas schien ein hoffnungsloser Fall zu sein. Und Kostensenkungen? Deutschland war bezogen auf das Pro-Kopf-Einkommen mittlerweile in der unteren Hälfte der europäischen Staaten angekommen. Nichtdestotrotz wurde mit der Agenda 2010 und den Hartz-Gesetzen der Sinnige Weg eingeschlagen. Heute erscheint es so, und die Mär wird eifrig erzählt, dass Schröders rigorose Austeritätspolitik Deutschland auf den Wachstumspfad zurückgeholt habe.
Dumm nur, dass auch in dieser Version die 2004 von Sinn selbstgestellte Frage „Was ist nur geschehen?“ unbeantwortet bleibt. Oder beantwortet wird mit der falschen Diagnose, dass das Lohn- und Sozialniveau zur Jahrhundertwende in Deutschland zu hoch gewesen sei. „Der kranke Mann Europas“ hatte absolut, aber gerade auch relativ, im Vergleich zu seinen westlichen Nachbarn, deutlich weniger in der Tasche. Die entscheidenden Weichen wurden in der ersten Hälfte der Nuller Jahre gar nicht in Berlin, sondern in Frankfurt gestellt. Denn mit der Einführung des Euro und der Übergabe der Geldpolitik an die EZB, die Europäische Zentralbank, galt von nun an für den gesamten Währungsraum ein einheitlicher Leitzinssatz.
Auch wenn es wegen laxer gesetzlicher Bestimmungen die Währungsumstellung im deutschen Einzelhandel teilweise für kräftige Preiserhöhungen herhalten musste, was den Euro sehr schnell als „Teuro“ denunziert hatte, die gesamtwirtschaftliche Lage bewegte sich an der Kippe zu einer Deflation. Deutschland war also zwingend auf niedrige Zinsen angewiesen. Ganz anders die Situation in den meisten anderen Euro-Ländern: dort wäre ein höheres Zinsniveau dringend geboten gewesen, um eine Überhitzung der Konjunktur zu verhindern. Um es kurz zu machen: die Deutschen (und ihre Kumpanen) konnten sich in Frankfurt durchsetzen. Die härtesten Monetaristen stritten für eine Politik des billigen Geldes. Auch Sinn war natürlich mit dabei.
Deutschland erhielt mit dieser Niedrigzinspolitik die nötige Luft, die rigorose Politik der Binnenkostensenkung ohne allzu große soziale Verwerfungen durchsetzen zu können. In Irland und Spanien sorgte eben dieses billige Geld für das Entstehen dieser desaströsen Immobilienblasen, die die Banken und verbunden damit die öffentlichen Haushalte dieser Länder in den Ruin trieben. Auch die Griechen, Italiener und Portugiesen gingen mit dem billigen Geld auf Einkaufstour. Deutschland dagegen, wo die Agendapolitik keinen Gedanken an Shopping aufkommen ließ, erlangte eine internationale Wettbewerbsfähigkeit, gegen die niemand mehr ankommen konnte. Schöne Sache: Einkaufen auf Pump bei den Deutschen, die endlich wieder Arbeit hatten.
Die Einführung des Euro und die Geldpolitik der EZB waren die Medizin, die den kranken Mann Europas wieder gesund gemacht hatte. Allerdings um den Preis, dass nun alle anderen Länder Europas, die vor zehn oder fünf Jahren noch geblüht hatten, nunmehr lebensgefährlich erkrankt sind. Das weiß er nicht, der Deutsche, der im Biergarten sitzt und allen Ernstes glaubt, dass all diese europäischen Faulpelze den tüchtigen Deutschen auf der Tasche liegen. Er ist absolut überzeugt davon, dass die Deutschen die Größten sind – allerdings dem Neid und der Missgunst der Nachbarn ausgesetzt. Er kann sich nicht einmal daran erinnern, dass er ein Jahrzehnt zuvor noch hoffnungslos in einer tiefen Depression steckte.
Er ist manisch-depressiv, dieser kranke Mann Europas. Mit seiner schweren Erkrankung gefährdet er sich selbst und Andere.