Ständige Erreichbarkeit und/oder „Funkstille“ – Ursula von der Leyen, Psychologen, Gewerkschaften und der Kapitalismus
Die Euro und/oder der Euro? Gomez und/oder Klose? CDU und/oder SPD? Finanzpakt und/oder Finanztransaktionssteuer? Deutschland und/oder die Schuldenmacher? Arbeit und/oder Freizeit? Ausbeutung à la FDP und/oder soziale Gerechtigkeit à la Ursula von der Leyen? Fragen über Fragen.
Sie schließen im Grunde an die Frage nach den Langweilern und/oder den Interessanten, die ich zuletzt erörtert hatte, nahtlos an. Um mich kurz selbst zu zitieren: „Es gibt auch Fußballspiele, die sind stinklangweilig. Genauso wie es auch Arbeitstage gibt, die hochinteressant verlaufen“, schrieb ich, ohne jedoch einen Hehl daraus zu machen, dass es sich bei beiden Phänomenen eher um Ausnahmen handeln dürfte.
Ich habe Ihnen hier die Lucy-Kellaway-Kolumne mit dem Titel „Langweiler sind im Vorteil“ empfohlen. Im Arbeitsleben war gemeint, natürlich. Wie es in der Freizeit aussehen könnte, war nicht Gegenstand der Betrachtungen. Kellaway´s Begründung: weil die Erwerbsarbeit aus sich heraus langweilig sei, kämen Typen mit entsprechender Wesensverwandtschaft in ihr naturgemäß besser zurecht.
Was sich naheliegenderweise in Hinblick auf Geldbeutel und Girokonto als vorteilhaft erweise. Menschen mit dem Handikap, interessant zu sein, könnten diesen Nachteil nur ausgleichen, indem sie in der Presse Kolumnen schreiben, wie z.B. Mrs. Kellaway oder, wenn das nicht hinhaut, erwerbsgünstig heiraten, was letztlich noch geschickter sei.
Trotz dieser kleinen Ungeschicklichkeit, für ihr Geld malochen zu müssen, gehört Lucy zweifelsohne zu den interessanten Menschen. Ursula von der Leyen zum Beispiel ist Politikerin, eine Ministerin sogar, verantwortlich für die Bereiche Arbeit und Soziales. Das ist schon an sich interessant. Ist aber für sich eigentlich auch Frau von der Leyen interessant?
Die Einen sagen so, die Anderen so. Lucy gibt in ihrer Langweiler-Kolumne zu bedenken: „Die Langweiler sind gegenüber den Interessanten dermaßen im Vorteil, dass sie sich sogar in Bereichen durchsetzen und die Topjobs belegen, in denen es besonders auf Persönlichkeit ankommt, zum Beispiel in der Politik.“
Ursula wiederum verspürte die Notwendigkeit, sich mit einer wichtigen Überlegung zur Frage „Arbeit und/oder Freizeit“ noch interessanter zu machen. Diese ganzen neumodischen Erscheinungen wie eMails, SMSen, gar noch auf Smartphones und so, hätten zur Folge, dass das Leben für „Arbeitnehmer“ – Sie wissen schon, wer gemeint ist, oder? – „stressig“ werde.
Also wird folgende Meldung rausgehauen und mitten zwischen der Euro und/oder dem Euro, Gomez und/oder Klose, CDU und/oder SPD? Finanzpakt und/oder Finanztransaktionssteuer platziert: „Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) fordert eine deutliche Trennung von Arbeit und Freizeit.“ Interessant.
Begeisterung allerorten, na ja: fast allerorten. In Bielefeld hegt der Kommentator des Westfalen-Blatts Bedenken: „Wie so oft ist das Leben nicht so einfach, wie die Politik dies gerne vorgibt.“ Okay, stimmt auch wieder. Der Weser-Kurier vermag sogar zu berichten, dass „Bremer Experten von der Leyen kritisieren“.
Doch selbst in diesen Notizen aus der Provinz wird an der Volksweisheit „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps“ nicht gerüttelt. Sie passe halt nur in der heutigen Zeit nicht mehr immer so. Na logisch, Ihr Kapitalistenknechte aus Bielefeld oder Bremen oder wo man sonst noch glaubt, in einer Großstadt zu leben, nur weil es verdammt viele Leute ins Nichts verschlagen hat.
Deshalb setzen ja diese Profitgeier die „Arbeitnehmer“ so unter Stress. Aber nicht mit Arbeiterkämpferin Ursula! Die von der Leyen. Da sollen die sich mal etwas einfallen lassen, die Arbeitgeber und die Arbeitnehmer, spricht die Frau Minister. Und –von ein paar großstädtischen Dorfdeppen abgesehen – sind alle, wie gesagt, begeistert.
Die Gewerkschaften grummeln zwar leise: „Wieso wir? Soll die doch selbst machen! Kriegen wir doch nicht bezahlt.“ Aber im Grunde: ganz prima! Und die Psychologen und Psychotherapeuten erst einmal! Ganz große Stunde für die Arbeitspsychologen und die Arbeitssoziologen. Stress kann krank machen, bestätigen die Wissenschaftler. Interessant.
Der „DGB fordert Anti-Stress-Verordnung gegen ständige Erreichbarkeit“, melden die Agenturen. Der Direktor eines mit dem Thema befassten Forschungsinstituts erklärt stolz, in seinem Laden gäbe es nur ganz wenige Diensthandys. Und eine Psychotherapeutin erläutert, 24-stündige Erreichbarkeit … – die beinhalte ja sogar auch die gesundheitlich absolut notwendigen Schlaf- und Ruhephasen.
24-stündige Erreichbarkeit, wenn ich dies ergänzen darf, beträfe darüber hinaus auch die Zeiten, wenn Mama und Papa sich ganz dolle lieb haben, oder auch Momente, die der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin groß müssen. Mitunter kommt man ja wegen des ganzen Stresses auf der Arbeit überhaupt nicht dazu, diese Geschäfte im Büro zu erledigen.
Doch damit ist jetzt Schluss! „Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) fordert eine deutliche Trennung von Arbeit und Freizeit.“ Alles Andere, irgendwelche Vermischungen: Kapitalismus pur. Dienst und Schnaps fein säuberlich getrennt: Soziale Marktwirtschaft. Acht Stunden mitdenkender Mitarbeiter (weisungsgebunden, versteht sich), acht Stunden mündiger Bürger (Leben Marke „freie Welt“), acht Stunden Schlaf.
So geht Soziale Marktwirtschaft. Es kann gar nichts Besseres geben. Ein Drittel der Zeit Persönlichkeitsentwicklung im Arbeitsprozess, ein weiteres Freiheit und Verantwortung beim Aufstieg von der spießigen Mietwohnung zur – gar nicht einmal so spießigen – Eigentumswohnung, und das letzte Drittel Gesundheitsschutz im Schlaf.
Logisch, dass da ein klingelndes Handy nur stören kann. Genauso wie im zweiten Drittel beim alles entscheidenden Vorrundenspiel. Handy, SMS, eMail, Bluetooth und der ganze Kram gehören folglich wieder ins erste Drittel verbannt. Blöd nur: da braucht man dieses Zeug eigentlich gar nicht. Es sei denn, man ist Außendienstmitarbeiter, LKW-Fahrer oder so.
Es gab – so vor 25 bis 30 Jahren – eine kurze Zeitspanne, da gab es nur für diese Arbeitssklaven dieses ganze „moderne“ elektronische Gerät. Komischerweise waren damals die Gewerkschaften und die Psychologen auch enorm gegen diesen Funkverkehr. Es würde jetzt zu weit führen, die Argumente von dereinst anzuführen. Das ist ja auch Schnee von gestern. Und gewissermaßen ein Sonderfall, diese Berufsgruppen.
Wir merken uns einfach: Arbeitszeit und Freizeit gehören strikt voneinander getrennt. Sonst hätten wir Kapitalismus pur. Sagt die Ministerin, sagen die Gewerkschaften, sagen sogar die Wissenschaftler. Und erwecken damit den Eindruck, als kaufe der „Arbeitgeber“ im Grunde nur die Arbeitszeit – normal acht Stunden, prekär viel weniger.
Jeder, der schon einmal – in diesem Sinne – „gearbeitet“, also seine Arbeitskraft verkauft hat, weiß, dass obwohl es so auf dem Papier des Arbeitsvertrags geschrieben steht, dass die Wirklichkeit anders aussieht. Der vollzeitbeschäftigte „Normalarbeitnehmer“ verkauft nicht „nur“ die sieben oder acht Stunden abzüglich Wochenenden, Urlaubs- und Krankheitstagen; er verkauft sich ganz.
Er oder sie ist ganz und gar von der persönlichkeitsfördernden Integration in den Erwerbsarbeitsprozess abhängig. Der, meistens: die Teilzeitbeschäftigte macht i.d.R. ein noch schlechteres Geschäft. Das ist alles banal und bestens bekannt. Die Literatur der Gewerkschaften, der Psychologen und Arbeitspsychologen wie aller anderen Wissenschaftler im „Arbeitnehmerinteresse“ ist voll davon. Meist ganz ohne Handys, Smartphones und diesem Kram.
Und was den Kapitalismus – pur oder reguliert – betrifft: nur dieses Wirtschafts- und Gesellschaftssystem trennt die Sphären von Arbeit und Freizeit. Scheinbar. Mehr oder weniger materiell im Recht, in der Ideologie und – wovon hier die Rede war – in politischen Debatten, bspw. zwischen der und dem Euro. Im Denken der Menschen, also im gesellschaftlichen Überbau. Der aber ist nicht „materiell“.
„Nur der Kapitalismus“ heißt: historisch hat nicht ein anderes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem sich an der (ideologischen) Trennung von Arbeitszeit und Freizeit versucht. Das ist logisch, weil nur im Kapitalismus menschliche Arbeit eine Handelsware ist. Das muss nichts Schlechtes sein, was ohne Weiteres daran zu erkennen ist, in der Sklaverei, im Feudalzeitalter oder im Sowjetsozialismus die Lebenssituation der Arbeitenden häufig auch nicht gerade erstrebenswert war.
Mit der eigenen Arbeit handeln zu können, war und ist ein ungeheurer Fortschritt. Mit der eigenen Arbeit handeln zu müssen, hat bekanntlich auch so seine Schattenseiten, ist folglich auch nicht der Weisheit letzter Schluss. Es ist aber absolut notwendig dafür, dass der Kapitalismus überhaupt existiert. Politik kann – nie vollständig, aber doch weitgehend – die Schulen aus den Handelsbeziehungen herausnehmen, die Haushaltsarbeit, die Sexualbeziehungen, Bereiche der medizinischen Versorgung, etc.pp.
Wenn die menschliche Arbeit aus den Handelsbeziehungen herausgenommen wird, „entkapitalisiert“ wird, ist es kein Kapitalismus mehr. Wenn die Trennung von Arbeit und Freizeit aufgehoben würde, juristisch, ideologisch und politisch, hätten wir es nicht mehr mit „Kapitalismus“ zu tun. Jedes Verwischen dieser Trennung ist ein antikapitalistischer Schritt; jedes krampfhafte Festhalten das Gegenteil.
Es ist nicht ganz einfach zu verstehen, dass die – zu beobachtende – Tendenz zur Durchkapitalisierung sämtlicher Lebensbereiche selbst dem kapitalistischen System seine wichtigste Grundlage entzieht. Diese Widersprüchlichkeit wird bspw. in der von der Arbeitsministerin angestoßenen, offenkundig etwas grotesken Debatte um „Funkstille“ vs. „ständige Erreichbarkeit“ konkret.
Es ist selbstverständlich die Aufgabe der Gewerkschaften, ihre Leute vor den größten Zumutungen „des Systems“, ihrer Vorgesetzten oder ihrem eigenen Hang zum Wichtigsein zu schützen. Es ist blöd oder frech, wenn promovierte Psychologen den guten Rat geben, mal ganz locker mit dem Chef darüber zu sprechen, wie man es denn am besten mit den eMails, den SMSen und den Anrufen zuhause machen könnte.
Die Gewerkschaften sollten aber schon wissen, dass die Forderung nach „deutlicher Trennung zwischen Arbeit und Freizeit“ den Menschen nichts nützt. Es ist der reaktionäre Schrei nach dem Kapitalismus. Klar, oder wie heute gesagt wird: pur. Es ist die verlockende, weil naheliegende Begründung und Sicherung der eigenen Existenz. Gewerkschaften sind Geschöpfe des Industriezeitalters; sie leben mit der Furcht, gemeinsam mit ihm zu verschwinden.
Der Kapitalismus verschwindet aber nicht mit dem Industriezeitalter, er zerbröselt. Die Leute haben weiterhin Grund genug, sich zu wehren. Sie werden es nicht mit Großorganisationen tun, die ihnen die Handys wegnehmen wollen. Oder auch nur festlegen wollen, wann, wo und mit wem telefoniert werden darf und wann, wo und mit wem nicht.