Der Brutkasten (1)
1.1. / Als sich jemand nach meiner Heimat erkundigte, gab ich Preis: „Meine Heimat ist ein Brutkasten.“ An die technischen Details dieses Kastens konnte ich mich nicht erinnern, nicht einmal an den Geruch im Gehäuse. Meine Eltern erzählten mir jedoch einst, ich sei als weißhaariges Äffchen zur Welt gekommen. Viel später las ich, es wäre ein menschlicher Entwicklungsweg, doch hinterließ die Beschreibung des Weges bei mir Zweifel: in drei Monaten von einem Äffchen zu einem Menschchen? Dies könnte sogar in einem Brutkasten nicht gelingen … Und tatsächlich: meine DNA stimmt zu über 98% mit denen von Schimpansen überein. Es gibt vermutlich keinen fundamentalen Unterschied zwischen Tieren und Menschen. Aber die Feinheiten, die könnten interessieren, jedoch keine Einbildungen.
1.2./ Die hohe genetische Übereinstimmung von Schimpansen und mir hatte mich überrascht, jedoch nicht gewundert. Viele Verhaltensweisen von Menschenaffen fand ich an mir wieder, von der Affenliebe bis hin zu dem Streben, ein Graurücken, ein besonderes Alpha-Tier zu werden, das zwar Achtung verlangt, aber keineswegs Demut oder Duckmäuserei. Die Bindung zu meiner Gruppe war nicht sehr ausgeprägt, ich hielt mich eher am Rand der Gemeinschaft auf, von dem alltäglichen Geschnatter der Gruppenmitglieder hielt ich wenig. Es gab andere Menschenaffen, die Wert auf Zustimmung legten, eine solche sogar erzwangen. Mir bedeutete ein Kuschen oder Schulterklopfen wenig bis gar nichts.
1.3./ Es gibt immer mal wieder Studien, die Verhaltensvergleiche von Menschen mit ihren Verwandten vornehmen, doch sie kränkeln häufig an Vorurteilen: verglichen werden z.B. menschliche entwickelte Gesellschaften, u.a. inkl. ihrer sozialen Mechanismen, mit Gruppen von Affen, denen jene Entwicklungen fehlten. Man könnte glauben, dies sei die beste Voraussetzung, um gesellschaftsbedingtes Lernen zu erforschen, doch wie sähe ein solcher Vergleich aus, wenn die fraglichen Menschen ebenfalls nur wenig entwickelt wären, nach modernen Maßstäben gemessen? Die Unterschiede zwischen Menschen könnten größer sein, als zwischen Menschen und Affen. Den einen Entwicklungsweg von Menschen gäbe es schlichtweg nicht, es sei denn, man würde moderne menschliche Gesellschaften vorab präferieren, bevorzugen. Und noch etwas bleibt zu erwähnen: die möglichen Unterschiede zwischen Schimpansen werden in den Studien vernachlässigt.
1.4./ Dass Unterschiede zwischen Menschen zum Teil größer sind als die angenommenen fundamentalen zu Affen, hatte in der Vergangenheit zu Rassenannahmen unter Menschen verleitet, die Klugheit eines Homo Sapiens ist durchaus begrenzt und davon abhängig, inwieweit dieser gesellschaftlichem Geschnatter unterliegt. Autonomie wäre kein möglicher Anspruch von Menschen allein, sondern auch ein möglicher Anspruch jener Graurücken, die wenig oder gar kein Vergnügen daran hätten, andere Gruppenmitglieder zu quälen. Und: Autonomie wäre eingebettet in die Natur, ob von Schimpansen oder Menschen, und dies bereits, wenn man von Sprache absieht, nur auf das jeweilige Verhalten achtet.
1.5./ Wie aber lässt sich Autonomie erläutern? Wortwörtlich wird lediglich über eigene Regeln gesprochen, die sich als Gesamtheit vom Rest der jeweiligen Gruppe unterscheiden, zu der das jeweilige Individuum gehört. Dies gälte nicht nur für Sprache, sondern auch für das beobachtbare Verhalten. Sprachlich als auch dem sonstigen Verhalten nach stände eine Abgrenzung von der Gruppe im Zentrum und könnte als Bedingung für eine Individualität betrachtet werden, die auch erlebbar ist.
1.6./ Aber Heimat? Ein Wort wie ‚Heimat‘ wird i.d.R. emotional aufgeladen. Es gehört zu den Worten, die allenfalls geschnattert werden, vom Schimpansenspektakel kaum zu unterscheiden sind. Ich hatte es mit Bedacht gewählt. Territoriale Ansprüche hege ich nicht, nicht für mich und auch für keine Gruppe. Das Wort vermittelt nicht mehr als ein wohliges Gefühl, in Kontrast zum Wort ‚Brutkasten‘. Ein Bezug des Wortes ‚Heimat‘ ist von mir nicht auszumachen. Deshalb ist ‚Brutkasten‘ eine gelungene wenn auch unklare Erläuterung, es bliebt unspezifisch.
1.7./ Um Bezug haben zu können, hätte Sprache eindeutig zu sein, eineindeutig. Ein Bezug liegt entweder vor, oder nicht, zumindest in Teilen. Das Wort ‚Brutkasten‘ aber wurde von mir in einem konkreten Zusammenhang benutzt, obwohl es allgemein ist, logisch ein Klassenbegriff. Ach Sprache, ich weiß, wäre sie doch nicht derart schwer verständlich. Vielleicht sind Menschen durch Sprache immer noch überfordert …, aber Krieg und Übertötung, da wird einem rasch warm ums martialische Affenherz.
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Part 2 des Anfangs: https://xtranews.de/2022/05/22/der-brutkasten-2-id14213324.html