Duisburg: Stadt gedenkt den Opfern der Pogromnacht von 1938
Heute Abend erinnerte die Stadt Duisburg an die Opfer der Pogromnacht vom 9. November 1938. Nach der Gedenkfeier im Gemeindezentrum der Jüdischen Gemeinde Duisburg-Mülheim/Ruhr-Oberhausen führte ein Schweigemarsch unter Beteiligung von Duisburger Schülerinnen und Schülern zur Gedenkstätte am Rabbiner-Neumark-Weg. Der Weg des Schweigemarsches unter Beteiligung von Duisburger Schülerinnen und Schülern führt vorbei an „Stolpersteinen“, die an Opfer der NS-Diktatur erinnern. An der Gedenkstätte wurde ein Kranz niedergelegt. Das Rahmenprogramm wurde von Schülerinnen und Schülern des Landfermann-Gymnasiums in Kooperation mit dem Zentrum für Erinnerungskultur, Menschenrechte und Demokratie gestaltet. Die musikalische Begleitung übernahmen Schülerinnen und Schüler des St. Hildegardis-Gymnasiums.
In seiner Eröffnungsrede bedauerte Bürgermeister Volker Mosblech, das aufgrund der Corona-Pandemie und der hohen Zahl an Neuinfektionen in Duisburg 2020 die traditionelle Gedenkstunde im Rathaus Duisburg und der Schweigemarsch zum Mahnmal am Rabbiner-Neumark-Weg leider nicht in ihrer üblichen Form stattfinden konnte. Gerade der Stadt Duisburg sei es ein besonderes Anliegen die Erinnerung zu den Geschehnissen der Pogromnacht und all der Opfer des Nazi-Regimes aufrecht zu erhalten, betonte Mosblech in seiner Rede. Gemeinsames Gedenken sei wichtig und habe eine starke symbolische Bedeutung. Hass, Hetze und Ausgrenzung sind nach wie vor alltäglich gegenwärtig. Antisemiten, Rechtspopulisten und Rassisten vergiften das politische Klima in unserem Land. Hiermit setzen sie bewusst den gesellschaftlichen Frieden aufs Spiel. Während der Corona-Pandemie wurde dies ebenfalls deutlich. Viele Verschwörungstheorien seien in den letzten Monaten eindeutig antisemitisch und schüren Vorurteile gegen Jüdinnen und Juden. Ein Beispiel hierfür sei die Behauptung, Juden seien für die Ausbreitung des Virus und die respektiven staatlichen Maßnahmen verantwortlich zu machen. Solche Äußerungen haben einen erschreckenden Wiedererkennungswert. Das Auftauchen des Davidsternes mit der Aufschrift „Ungeimpft“ sei erschreckend und wirkt wie eine Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen gegen jüdisches Leben. Dies habe auch Einfluss auf die nachhaltige Erinnerungskultur. Es sei unerträglich, beschämend und inakzeptabel.
Pfarrer Dirk Sawatzki aus der evangelischen Gemeinde Trinitatis, hielt einen bemerkenswerten und lesenswerten Vortrag unter dem Titel „Wer Ohren hat, der höre! Vom Hören und Zuhören in Religion und Gesellschaft“. Dazu gehören O-Töne wie diese: „Nicht das Reden steht am Anfang, sondern das Zuhören: sich unterbrechen lassen, stillwerden und hören auf das, was Israel gesagt ist. (…) Die Ursache des Antisemitismus liegt im Wegsehen und Weghören.“ Der Vortrag kann per PDF hier abgerufen werden.
Schülerinnen und Schüler vom Landfermann-Gymnasium hielte den Vortrag „Als ich in meiner Heimat zum Fremden und Verfolgten wurde…“ – am Beispiel von Leon Jessel. Ein Beitrag, der unter die Haut ging. Die Schülergruppe arbeitete unterstützt durch das Zentrum für Erinnerungskultur, der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und dem Kunst-Grundkurs die Lebensgeschichte Leon Jessels auf. Einem in Duisburg geborenen und aufgewachsenen Juden. Er wurde am 25.06.1918 in Duisburg-Wanheim geboren, wo er mit seiner Familie lebte. Die Eltern betrieben ein Geschäft für Herrenbekleidung auf der Wanheimer Straße 648.
Am 01. April 1933 machte Leon Jessel seine erste antisemitische Erfahrung. Im Alter von 14 Jahren musste er erleben, wie sein Vater einen Herzanfall erlitt, weil ein SA-Mann nicht-jüdische Kunden daran hinderte, bei Jessels einzukaufen. Weil Leon Jude war, war er täglich antisemitischen Vorurteilen in der Schule ausgesetzt. Er wurde von anderen Schülern beschimpft und geschlagen. 1935 musste er vorzeitig mit einem ungerechtfertigten Zeugnis das Gymnasium verlassen. In allen Fächern wurde er mit „Ausreichend“ bewertet. Im Anschluss begann er eine Ausbildung in einer Lederwarenfabrik bei Offenbach.
Während der junge Leon in Offenbach verweilte, zwangen die Boykotte seine Eltern dazu, ihr Geschäft in Duisburg aufzugeben. Aufgrund fehlender Einnahmen war die Familie 1938 dazu gezwungen in eine kleinere Wohnung in die Lippestraße 18 zu ziehen. Im November des gleichen Jahres brennen im ganzen Land die Synagogen, jüdische Wohnungen wurden verwüstet und Juden öffentlich misshandelt. Einen Tag zuvor wurde dem jungen Leon gekündigt. Er versuchte zu seiner Familie nach Duisburg zu kommen. Am Bahnhof angekommen trat er auch sogleich die Flucht an, weil gefragt wurde, ob man Jude sei oder nicht. In der Nacht brannten die Synagogen in der Junkernstraße, in Ruhrort und auch Hamborn. Zwischenzeitig kam Leon Jessel bei einer Tante in Frankfurt unter.
Als er eines Tages aus dem Wartezimmer eines Arztes kam, stellte ihn ein SS-Mann und fragte, ob er Jude sei. Leon antwortete mutig: „Ja!“ – Die Männer brachten ihn in die Frankfurter Stadthalle. Später wurde Leon Jessel im Alter von 20 Jahren ins KZ Buchenwald deportiert. Der junge Leon erlebte unmenschliches während seiner Inhaftierung. Schlafen muss er in einer überfüllten Baracke, zwischen Abfällen und menschlichen Exkremente. In einer Nacht musste er erleben, wie zwei Insassen neben ihm verstarben.
Als eines Tages sein Name aufgerufen wurde, ahnte er zunächst Böses. Doch der junge Mann wurde 1939 frei gelassen, unter der Bedingung Deutschland zu verlassen. Die Vertreibung der Juden aus Deutschland stand auf dem Höhepunkt. Leon fuhr nach Duisburg um eine Freundin zu besuchen, deren Familie Kontakt zum britischen Konsulat hatte. Die Familie verhalf ihm zur Flucht nach England. Im Gepäck: Nur 10 Reichsmark und seine wichtigen Dokumente. Als er in England ankam, wohnte er in einem Arbeiterviertel in Birmingham. Er fand Arbeit in einer Lederwarenfabrik.
1941 spitzte sich die Situation für die noch in Deutschland lebenden Juden dramatisch zu. Es herrschte ein absolutes Ausreise-Verbot für Jüdinnen und Juden. Eine Flucht wurde unmöglich. Im Ausland lebenden Jüdinnen und Juden wurden per Erlass die Deutsche Staatsangehörigkeit entzogen. Ihr in Deutschland befundenes Vermögen fiel somit dem Staat zu. Die Massenvernichtungen in den Konzentrationslagern und Ghettos nahmen zu.
1946 erfuhr Leon Jessel von seinem Onkel aus Gelsenkirchen, dass seine Eltern am 01.11.1944 im Konzentrationslager Auschwitz umgebracht wurden. Seine Schwester Ruth kam am 13.09.1942 im KZ Lublin ums Leben. 1953 trat das Entschädigungsgesetz in Kraft. Es wurden Entschädigungen für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung gezahlt. Auch Leon Jessel stellte einen solchen Antrag beim Amt für Wiedergutmachung der Stadt Duisburg. Das Leben seiner Eltern und die zuvor über 11 Jahre andauernden Drangsalierungen durch den Nationalsozialismus wurden mit nur 5.000 D-Mark entschädigt. Eine beschämende Summe.
Leon Jessel versuchte weiter zu kämpfen, für seine Familie und all das Leid, das sie ertragen musste. 1990 kehrte Leon Jessel erstmals zurück in seine alte Heimat Duisburg. Er war dabei, als Stolpersteine in Erinnerung an seine verlorene Familie auf der Wanheimer Straße 648 eingesetzt wurden. Am 23.03.2006 starb Leon Jessel in England. Er hatte die britische Staatsbürgerschaft, war zweimal verheiratet und hatte einen Sohn mit seiner ersten Frau.
Im Anschluss führte ein Schweigemarsch unter Beteiligung von Duisburger Schülerinnen und Schülern zur Gedenkstätte am Rabbiner-Neumark-Weg. An der Gedenkstätte sprach Oberrabbiner David Geballe das „El male rachamim“. Die Anfangsworte eines jüdischen Gebetes, welches zum Gedenken an die Opfer des Holocaust vorgetragen wird.