Wo die Sonne die Erde umkreist: Marxloh
„Fahr da doch einfach mal vorbei und guck es Dir an!“, hat mir der Genosse Vorsitzende empfohlen. Er hat nämlich nicht glauben wollen, was ich geglaubt hatte. „Du weißt doch, wie oft die bei uns das Foto mit dem Müllberg gezeigt hatten, obwohl der nur einen Nachmittag lang da war. Und was hier alles an frei erfundenen Horrorgeschichten über die Roma erzählt wurde.“ Na klar: ich kann mich noch gut erinnern. „Hier“ – das ist Rheinhausen; „da“ – das ist ein anderer Duisburger Stadtbezirk, nämlich Hamborn, genauer gesagt: der Stadtteil Marxloh. Sozusagen genau am anderen Ende der Stadt. Aber das ist es nicht. Natürlich könnte ich ohne weiteres mal eben „da“ vorbeifahren. Selbst Angucken, dagegen ist im Grunde nichts zu sagen. Denn dann weiß man wirklich Bescheid. „Probieren geht über Studieren“, pflegte mein Opa zu sagen. Und: „Wer damals nicht selbst dabei war, kann schon mal überhaupt nicht mitreden.“
„Mal sehen“, nuschelte ich in meinen nicht vorhandenen Bart. Gegen Selbst-Angucken ist nämlich sowieso nicht anzukommen. Man muss natürlich auch richtig gucken. Wer nichts sehen will, sieht auch nichts. Logisch. Das heißt aber auch: wer alles Mögliche sehen will, sieht auch alles Mögliche. Man kann nicht einfach nur eine Theorie haben; man muss sie auch empirisch (das ist der Fachausdruck für Hingucken) überprüfen. So hatte ich es an der Uni gelernt. Richtig gucken heißt freilich auch: mehrmals hingucken. Nicht, dass man das Roma-Kleinkind, das gerade in Ermangelung einer Windel den Bordstein zuscheißt, noch übersieht! Fakten, Fakten, Fakten… – und runter mit der rosaroten Brille! Die „rosarote Brille“ – also, es hatte mir nichts genutzt, den Schilderungen aus Marxloh in der mir eigenen Naivität einfach mal so Glauben zu schenken. Ich würde die Zuwanderer aus Südosteuropa durch eben diese schönfärbenden Gläser betrachten, beschieden mir die Freunde aus Marxloh.
Ich hätte keinen blassen Schimmer von den Zuständen im Duisburger Norden, werfen mir diejenigen vor, die sich über die aus Rumänien und Bulgarien Gekommenen das Maul zerreißen. Vermutlich zu Recht, denn ich bin jetzt tatsächlich längere Zeit nicht in dem mir ansonsten bestens bekannten Stadtteil gewesen. Ganz witzig: es ist im Grunde derselbe Vorhalt, den mir der eingangs zitierte Genosse macht, dessen Urteil über die zeternden Nordlichter deutlich kritischer ausfällt als meins. Einfach mal die Dinge mit eigenen Augen angucken – ohne rosarote Brille und erst recht, versteht sich, ohne jegliche ideologische Verblendung. Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität und so´n Zeug – immer gern; aber erst einmal ganz unvoreingenommen gucken, was Sache ist! Und für diese Wahrheit dann auch streiten; wenn´s sein muss, auch gegen alle möglichen ideologischen Spinner.
Das ist nicht immer einfach, keine Frage. Ich zum Beispiel beobachte Tag für Tag, völlig unvorein-genommen übrigens, wie sich die Sonne um die Erde dreht. Trotzdem: ich komme mit der Wahrheit nicht gegen dieses ganze System aus Lug und Trug nicht an. Irgendwelche selbsternannten „Wissenschaftler“ werden angekarrt, die kackfrech – ich vermute: für Geld – das Gegenteil behaupten. Die Presse, die Politik, die Lehrer in den Schulen… – alle beten es nach: die Erde würde sich um die Sonne drehen! Lächerlich. Wenn es nicht so bitter wäre: man könnte sich Schütteln vor Lachen. Und ganz genau so stelle ich mir das auch vor, wenn ich mir Marxloh mit eigenen Augen ansähe und dann berichtete. Egal was, übrigens. Stellen Sie sich vor, ich würde mich nach der Ortsbesichtigung an die Marxloher wenden und ihnen freudig mitteilen: „Freunde! Habt Euch nicht so! So schlimm ist das nun auch wieder nicht…“ – Vielleicht würden sie es mir nicht einmal glauben.
Sie würden mir freilich glauben, wenn ich es etwas sagte wie „genau, wie Ihr erzählt habt“ oder noch besser: „Kinder, das ist ja noch schlimmer, als ich gedacht hatte. Allein: ändern würde es nicht viel. Man würde auch weiterhin auf die Neu-Zugezogenen zeigen – mit einer, umso breiter die Zustimmung, desto größeren Selbstgewissheit, dass „die“ sich nicht an die Regeln halten. Darauf soll es hinauslaufen, ganz unabhängig von der Wertung, ob die aus Südosteuropa Kommenden nur ein wenig oder aber ganz erheblich gegen die Regeln verstoßen. Deshalb ist es auch völlig egal, ob man selbst sich das mal angucken geht oder nicht. An dem Befund, dass diejenigen, die da mit wenig oder gar keinem Pfennig Geld, dafür mit umso mehr Kindern in heruntergekommenen Buden hausen, sich nicht eins zu eins an die hiesigen Gepflogenheiten halten, führt kein Weg vorbei. Also muss da etwas passieren, denkt sich der gemeine Marxloher – völlig zu Recht. Und zwar „mit denen“…
Sodann gehen die Vorschläge ein wenig auseinander. Die einen wollen die Roma ganz „nach Hause“ schicken, andere wollen sie anders verteilen, wieder andere wollen „die Spreu vom Weizen trennen“ – ein Ansatz, der auch von den schön im Grünen wohnenden, politisch links gesonnenen Freunden dieser Zuwanderergruppe (selbstverständlich mit anderer Diktion) geteilt wird. Man ahnt, dass all diese Vorschläge völliger Quatsch sind, weil Rumänien und Bulgarien der EU angehören und für EU-Bürger Niederlassungsfreiheit gilt. Man könne nicht, wird mir entgegengehalten, mit dem Verweis darauf die ganze Diskussion niederbügeln. Man kann nicht? Wie bitte? Man muss! Jedenfalls was die Diskussion über „Vorschläge“ betrifft, die vom Prinzip der Niederlassungsfreiheit in der EU absehen. Dabei handelt es sich nämlich nicht um irgendeine EU-Regel, an der – wie etwa bei den Vereinbarungen zum Euro – herumgedoktert werden könnte, sondern um eine tragende Säule der EU.
Ein Punkt, den viele Roma, zumindest aber ihre Anführer, vielen Marxlohern, zumindest aber ihren Anführern, voraus haben: sie wissen das. Die Alteingesessenen wissen es im Prinzip auch, wollen es aber partout nicht wahrhaben. Die Neuen werden bleiben. Vielleicht werden einige von ihnen weiter-ziehen, dafür werden aber noch mehr von ihnen kommen. Sie werden sich hier niederlassen. Nicht in Baden-Baden oder in Schwabing, sondern in Duisburg. Nicht in Baerl oder in Serm, sondern in Rheinhausen oder in Hochfeld. Oder eben in Hamborn und speziell in Marxloh. Es folgen die Hilfsargumente, die im Grunde keine Argumente sind, sondern – sagen wir mal – Hilferufe. Kurz vor der Eskalation, ja Explosion sei die Situation und immerhin kann man – in aller Betroffenheit, versteht sich – darauf verweisen, dass es schon einen, wenn auch missglückten, Brandanschlag gegeben habe und dass angeblich türkische Männer Schlägertrupps formieren.
So weit, so schlecht. Nur: bevor sich im letzten balkanesischen Dorf herumsprechen könnte, dass es in Marxloh eins vor die Fresse gibt, wird Innenminister Jäger die stolzen anatolischen Nachkommen, die schon eine Generation länger wissen, was ein WC ist, hinter Schloss und Riegel bringen lassen, weil wir Deutsche es nämlich gar nicht mögen, von anderen Europäern ständig an diese alten Nazigeschichten erinnert zu werden. Der etwas zivilisiertere „Hilferuf“ geht so: wenn sich die SPD nicht um die „berech-tigten Sorgen“ der Menschen kümmere, wählen die demnächst die rechten Rattenfänger. Das Dumme nur: wenn Sozialdemokraten (und Konservative und Liberale) dieselben Sprüche raushauen wie die Rechten, wählt das Fußvolk erst recht das Original und nicht die Kopie. Dänemark lässt grüßen. Genossin Thorning-Schmidt: abgewählt. Kein Mensch braucht Sozis, die gegen Schwächere hetzen.
Aber natürlich: da muss etwas passieren. Das ist doch klar. Es bringt auch nichts, eine rosarote Brille aufzusetzen. Man muss die Dinge schon so sehen, wie sie sind – immer im Klaren darüber, dass es nicht die eine, sondern dass es verschiedene Wahrheiten gibt. Und man soll, ja: man muss auch drüber reden. Über die Probleme, nicht abfällig über Menschen und was die so machen, was man gehört hat, was die so machen und was die „bestimmt“ noch machen werden, wogegen „die da oben“ bedauerlicher- bis ärgerlicherweise aber nichts machen. Nein, wir müssen offen und aufrichtig reden, um in die Lage kommen zu können, offen und aufrichtig handeln zu können. Integrationspolitik heißt das Zauberwort. Es gilt für die da oben und für die da unten. Für die, die schon lange hier wohnen, und danach auch für die Neuen. Es gilt für die Partei, für die Parteien und für die Verwaltung. Für Kirchen und Vereine. Es ist mühsam, es ist steinig, es geht nicht ohne Rückschläge. Aber es geht nicht anders. Die Erde dreht sich um die Sonne und nicht umgekehrt. Auch in Marxloh.