Ein Rückblick auf die Hälfte der Strecke
Neulich. Jahreshauptversammlung im Ortsverein. Junge, Junge! Bis die ganzen Wahlen über die Bühne waren. Das hatte gedauert. Wahl des neuen Vorstands. Erst die Einzelwahlen, dann die Beisitzer in Listenwahl. Nicht zu vergessen die Kassenprüfer. Und dann die Delegierten. Wahl der Delegierten zur Wahlkreiskonferenz für die vorgezogene Landtagswahl. Wahl der Delegierten zur Wahlkreiskonferenz für die vorgezogene OB-Wahl. Beide Delegiertenwahlen ohne Frauenquote, aber mit der Bitte, beim Ankreuzen auf ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis zu achten. Dann die Delegiertenwahlen zum ordentlichen Parteitag, endlich mit Frauenquote. Da waren anderthalb Stunden rum. Mindestens. Mitunter kann einem die Demokratie ganz schön auf die Nerven gehen.
Tagesordnungspunkt Verschiedenes. Eine junge Genossin macht darauf aufmerksam, dass bei uns in Rheinhausen die sog. „Autonomen Nationalisten“ allerorten ihre Aufkleber an die Masten der Ampeln und Verkehrsschilder kleben. Nach Klärung der Frage, wer oder was eigentlich „Autonome Nationalisten“ sind, lobt eine Genossin in meinem Alter die halb so alte, diese Sache einmal angesprochen zu haben. „Wir Älteren sehen so etwas ja gar nicht“, stellte sie zu Recht fest. „Ihr Jüngeren habt für so etwas ein viel besseres Auge.“ Um unsere Generation nicht ganz so ahnungslos dastehen zu lassen, gab ich zu bedenken, diese Nazikleber müssten wohl aus Moers kommen; denn meines Wissens gibt es in Rheinhausen solch eine Szene nicht. Bingo! Die halb so alte Genossin gab mir Recht.
Glück gehabt! Dieser Nazidreck wird aus Moers eingeschleppt. Keine Nazis in Rheinhausen. Na, dann ist ja alles in Ordnung. Gibt es weitere Wortmeldungen zum Tagesordnungspunkt Verschiedenes. Das ist nicht der Fall; damit ist die Versammlung beendet. Junge, Junge! Wir sind in die Jahre gekommen. Ich zum Beispiel, aber auch diese Republik, die zweite deutsche Demokratie. Mitunter geht sie einem ganz schön auf die Nerven, aber – seien wir ehrlich! – sie funktioniert doch ganz gut, diese Bundesrepublik Deutschland. Sicher, hier und dort gibt es soziale Ungerechtigkeiten, wir leben nicht im Paradies. Manches muss besser werden, klar. Aber die Sache läuft. Seit 64 Jahren, also ziemlich routiniert. Mit 64 macht man sich nicht mehr wegen jedem möglichen Kram verrückt. Man ist gelassener geworden. Sachlich.
Gehen wir die Hälfte der Strecke zurück! Ins Jahr 1980, heute vor 32 Jahren, die Bundesrepublik war 32 Jahre alt. Also auch schon erwachsen geworden, jedoch noch nicht völlig souverän. Junge, Junge! War das eine Aufregung damals. 1980 schickte sich Franz-Josef Strauß an, Bundeskanzler zu werden, um im Namen der Freiheit die westdeutsche Demokratie vor dem Sozialismus – verkörpert durch Helmut Schmidt – zu bewahren. Vier Jahre zuvor war Schmidts Sozialismus noch mit knappem Vorsprung siegreich geblieben; aber 1976 hieß der Vorkämpfer für die Freiheit noch Kohl. Was, wenn jetzt – 1980 – der Reaktionär aus Bayern ins Kanzleramt einziehen sollte?! Junge deutsche Linke überlegten scharenweise, wohin sie in diesem Fall – also quasi einer neuerlichen Machtergreifung – auswandern sollten.
1980 – Franz-Josef Strauß, der Lieblingsfeind aller progressiven Menschen und Helmut-Schmidt-Fans, wagte sich vor das Wedau-Stadion, wo Duisburger Christdemokraten seine Tiraden für die Freiheit bejubeln, wo seine Gegner aber die von ihnen ausgemachte faschistische Gefahr mit Eiern und Tomaten bekämpfen. Und im ganzen Land mit den Verkehrsschildern nachempfundenen, achteckigen Stopp-Strauß-Plaketten, und ganz viel „Rock gegen rechts“. Ja, irgendwie hatte es schon Spaß gemacht damals, so auf halber Strecke. Strauß konnte gestoppt werden, Schmidt noch zwei Jahre weiterregieren, bis Kohl ihn mit dem Versprechen einer „geistig-moralischen Wende“ abgelöst hatte. Dazu ist er aber im Laufe seiner 16-jährigen Amtszeit nicht so richtig gekommen, schließlich hatte er Wahlen zu gewinnen.
1980 – im Auftrag des Schmidtschen Kanzleramts hatte dasMeinungsforschungsinstitut Sinus untersucht, „wie groß das rechtsextremistische Potenzial in der Bundesrepublik Deutschland ist. Konservative Medien und die christlich-demokratische Opposition fanden allein schon die Themenstellung und den Aufwand (7000 Befragte) skandalös, ganz zu schweigen von dem „unmöglichen“ Ergebnis: Über 13 Prozent der westdeutschen Bevölkerung, so der später als `Sinus-Studie´ in die Geschichte eingegangene Bericht der Meinungsforscher, verfügten über ein `geschlossenes rechtsextremes Weltbild´, das im Wesentlichen als autoritär, nationalistisch, fremdenfeindlich, antisemitisch und pronazistisch definiert wurde. Und nicht nur das: Darüber hinaus befürworte die Hälfte dieser Gruppe Gewalt als Mittel zur Durchsetzung dieses Weltbilds.“
1980 – 13 Prozent der Westdeutschen haben ein „geschlossenes rechtsextremes Weltbild“; 6,5 Prozent der Westdeutschen halten die Zeit für gekommen, gewaltsam für den Erhalt des Deutschtums einzutreten. Es gab vor 1980 Studien, und es gab und gibt nach 1980 Studien, die ähnliche Befunde zutage förderten. Im letzten Jahr zum Beispiel sorgte eine Untersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung diesbezüglich wieder einmal für allgemeine Überraschung. Und noch größer ist die Überraschung, wenn Einzelne tatsächlich damit beginnen, mit Mord und Totschlag ihrem „geschlossen rechtsextremen Weltbild“ Ausdruck zu verleihen. Zum Beispiel am 26. September 1980, zwei Wochen vor dem Bundestagswahltermin: Bombenanschlag auf dem Münchener Oktoberfest. Dreizehn Tote, 211 zum Teil schwer Verletzte.
Bombenanschlag auf dem Oktoberfest 1980 – bis heute gilt trotz erheblicher Zweifel der Rechtsterrorist als Einzeltäter – die hierzulande offenbar einzig vorstellbare Version, wenn Faschisten ihre mörderische Spur hinterlassen. Fußball-Weltmeisterschaft 1990: Deutsche feiern den Titelgewinn, indem sie Nichtdeutsche auf offener Straße zusammenschlagen. Wiedervereinigung 1989/90: der Terror gegen Menschen, die anders als deutsch aussehen eskaliert. Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, aber auch Mölln und Solingen. Mitte der 1990er Jahre beginnt der NSU seine beispiellose Mordserie unter den Augen des Verfassungsschutzes. Die „Zwickauer Terrorzelle“ – so die medienübliche Bezeichnung für die Übertragung der Einzeltäter-Version auf ein Trio Infernale – verübt die „Döner-Morde“, die bedauerlicherweise von der Sondereinheit „Bosporus“ nicht aufgeklärt werden konnte.
Was soll´s?! Die Bundesrepublik Deutschland wird in diesem Jahr 64 Jahre alt. Da hat sie sich auch wegen dieses – zugegebenermaßen unschönen – Krams nicht verrückt machen lassen. Jedenfalls ist es den Nazimördern nicht gelungen, Angst und Schrecken in der Bevölkerung zu verbreiten. Jedenfalls nicht in der deutschstämmigen Bevölkerung. Man ist gelassener geworden; sie funktioniert doch ganz gut, diese Bundesrepublik Deutschland. Sicher, hier und dort gibt es soziale Ungerechtigkeiten, wir leben nicht im Paradies. Manches muss besser werden, klar. Aber die Sache läuft, die Wirtschaft brummt, gegen unsere Exportindustrie kommt keiner an. Und wenn wir erst einmal diese Eurokrise überstanden haben, hält uns niemand mehr auf. Dann können wir auch die letzten unserer kleinen Problemchen meistern, ohne für die Anderen blechen zu müssen.
Wie bitte?! Wenn das schief geht mit dem Euro? Wenn erst die Währungsunion und dann die ganze EU auseinanderbricht? Nun ja, das ist schwer vorherzusagen; da wird niemand eine Prognose wagen wollen. Dass politisch-ideologisch eine solche Entwicklung mit einem deutlichen Renationalisierungsschub einhergehen dürfte, erscheint indes klar. In ökonomisch-sozialer Hinsicht wird sich ein Zusammenbruch des exportwirtschaftlichen Modells inklusive eines gewaltigen Anstiegs der Arbeitslosigkeit kaum vermeiden lassen. Armut, Massenelend, man darf gar nicht drüber nachdenken. Aber nun wollen wir mal den Teufel nicht an die Wand malen. Seien wir ehrlich! Sie funktioniert doch ganz gut, die Demokratie hierzulande. Rechtsaußenparteien haben – im Gegensatz zu fast allen anderen europäischen Ländern – in Deutschland nichts zu bestellen.
Machen wir uns also nicht wegen jedem möglichen Kram verrückt! Bleiben wir gelassen! Sachlich.