Website-Icon xtranews – das Newsportal aus Duisburg

Sylvia Löhrmann: Wahlkampf bis zur letzten Sekunde

Oberhausen, Hattingen, Dortmund, Mülheim: Einen Tag lang hat Xtranews die Spitzenkandidatin von Bündnis 90 / Die Grünen auf ihrem Wahlkampf durch das Ruhrgebiet begleitet. Ein Stimmungsbild neun Tage vor der Wahl.

Eine eindrucksvollere Bebilderung für die Lage der meisten Kommunen in NRW als das Ebertbad in Oberhausen ist kaum vorstellbar. Hier, inmitten einer Szenerie die einem der Mad-Max-Filme entsprungen sein könnte, inmitten von Zerfall, Staub und gesprungenen Fensterscheiben findet der erste Termin des Tages statt. Eine Pressekonferenz zusammen mit Jürgen Trittin und das Thema sind – nicht allzu verwunderlich – die Kommunen in NRW. Ein geschlossenes Schwimmbad weckt in Sylvia Löhrmann Erinnerungen an ihre Jugend: Sie, die im Ruhrgebiet aufgewachsen ist, konnte noch füßläufig ein Schwimmbad erreichen, etwas was heutzutage für Familien nicht mehr selbstverständlich ist. Bäderschließungen, Kürzungen bei der Kultur, Abbau von Sozialleistungen – damit ist Sylvia Löhrmann mitten im Thema: „Mittlerweile sind nur noch 8 von 396 NRW-Kommunen in der Lage, aus eigener Kraft, ohne Inanspruchnahme der Ausgleichsrücklage, einen ausgeglichenen Haushalt hinzubekommen.“ Deswegen wurde der Stärkungspakt Stadtfinanzen aufgelegt. Dabei tut man dem Ruhrgebiet „Unrecht, wenn man es auf eine Art ‚Armenhaus‘ Deutschlands reduziert“, das Revier sei zuletzt durch RUHR2010 zu einer wichtigen Kulturregion geworden.

Während sie den Text der vorbereiteten Erklärung abliest, scheint Jürgen Trittin in Gedanken noch woanders zu sein. Immer wieder gleitet sein Blick über die Journalistenmenge hinweg, betätigen seine Finger das vor ihm liegende Smartphone – es ist als hätte seine Seele noch Probleme dem Körper nachzureisen. Doch hinter dieser Fassade verbirgt sich ein wacher, heller Geist wie man auch in Dortmund feststellen können wird. Erstmal aber ist noch das Ebertbad die Kulisse für die Botschaften, die die Grünen in diesem „Wahlkampf der Inhaltslosigkeit“ an den Mann und die Frau bringen wollen. Dazu gehört laut Frau Löhrmann auch, dass man eine neue Gesamtstrategie Ruhr brauche. „ein echtes Ruhrparlament mit gewählten und nicht qua Amt bestellten Mitgliedern“ gelte es zu schaffen. Der Strukturwandel müsse vorangetrieben werden und die Grünen wären nicht die Grünen wenn sie nicht das Thema der regenerativen Energien in den Vordergrund stellen würden. Aber auch die Gebäudesanierung sei ein wichtiges Thema: „Gerade hier im Ruhrgebiet könnten dadurch neue Jobs im Handwerk geschaffen werden.“ Ein kompletter Umbau der Region sei von Nöten. Und: Zukunftstechnologien gelte es zu entwickeln. „Das Herz der Industrie schlägt grün“.

Trittin, der bisher eher uninteressiert schien, blüht jetzt auf, schiebt Beispiele aus seinem Wahlkreis hinterher und vor allem eines ist ihm wichtig: „Frau Merkel hat die Wahl schon verlorengegeben, wenn sie Röttgen nach Rio schickt anstatt auf die Hinterbänke der Opposition in NRW. Lassen Sie sich nicht davon täuschen,“ ermahnt er und wirkt in diesem Minuten wie ein energetisch aufgeladener Jugendlicher vor seinem ersten Date. Sylvia Löhrmann hört ihm aufmerksam zu, ab und an scheint sie in das Gespräch eingreifen zu wollen, aber hält sich dann zurück. Nach dem offiziellen Teil der Pressekonferenz eilt sie von Einzelinterview zu Einzelinterview und ist nicht müde immer wieder erneut ihre Botschaften an den Reporter und die Massenmedien zu bringen. Wer sich dagegen Zeit nimmt und die momentane Ruine des Bades erkundet wird sich fragen: Was macht ein Küchen-Messer an der ehemaligen Garderobe, neben der noch der Zettel mit den Terminen des Schwimmvereins hängt?

Erst geht es in schwindelnde Höhen in Hattingen, dieser Stadt im Ruhrgebiet die aber schon weit außerhalb der Wahrnehmung des Ruhrpottes ist. Mit Hattingen assoziert der Ruhri erstmal – nichts, Hattingen ist ein weißer Fleck auf der Landschaft, es ist ländlich – rund 75 Prozent der Stadt sind Naturschutzgebiete oder anderweitig schützenswürdig – und wenn man vom ehemaligen Hochofen der Hattinger Hütte in die Weite blickt wird man nicht nur die Folgen des Industriewandels sehen sondern auch jede Menge sattes Grün. Hier oben, wo der Wind einem den Atem nimmt, blickt man zudem auf Geschichte. Hattingen, so erzählt man sich, sei die Wiege des Bergbaus im Pott. Sylvia Löhrmann, die unerschrocken die Strecke nach oben geschafft hat, blickt zufrieden in die Runde. Hattingen nämlich ist was regenerative Energien anbelangt weit vorne. Sehr weit vorne. Aber: „Wir wissen, dass wir beim Bau regenerativer Energieanlagen Probleme bekommen werden, weil Hattingen wenige Fläche hat, die aber dicht besiedelt ist,“ so Thorsten Coß von der EN-Agentur, einem Verbund von den Stadtwerken der Region, die sich regenerative Energien sei 2010 auf die Fahne geschrieben haben. Nicht nur das, man denkt auch generell sehr grün in dieser Stadt.

Seit 1992 wird der Biomüll extra gesammelt und eine Anlage zur Verwertung desselben ist ebenfalls errichtet. Sylvia Löhrmann lächelt und lässt die folgende Powerpoint-Präsentation mit Grazie über sich ergehen. Zahlen, Daten und Fakten werden an die Wand geworfen – so erfährt man, dass Hattingen sich die Ziele der EU vorgenommen habe zu erfüllen, dass dies nicht einfach sei, dass es zahlreiche Projekte mit Schulen vor Ort gebe um das Thema bekannt zu machen, kurzum, Hattingen ist eine Vorreiterstadt was den Bereich der regenerativen Energien angeht. Dabei habe man alle benötigten Parteien ins Boot geholt und allein bei den Wohnungsgemeinschaft könnte man an die 1000 Häuser umweltfreundlich sanieren. Doch auch die Probleme werden angesprochen: Die EEG-Umlage und nicht zuletzt der Kampf Artenschutz gegen Windkraft – davon seien die Schwarzstörche in der Umgebung betroffen und da hätte sich in der Bevölkerung schon Widerstand gegen gerührt. „Was man hieran sieht“, so Frau Löhrmann als es zum Ende kommen muss, durch Stau und Baustellen hat sich der Zeitplan etwas nach hinten verlegt, „ist, dass sie eine Gesamtstrategie entworfen haben.“ So eine Gesamtstrategie ist auch für NRW nötig.

Sommerfeststimmung in Dortmund. Im Schatten der Reinoldi-Kirche befindet sich die Bühne der Grünen in der Nähe von Schwarz-Gelb, wenngleich diese Farben hier in Dortmund eine andere Bedeutung haben als auf der Bundesebene. Der Devotionalienhandel für den Deutschen Meister 2012 schlägt bizarre Wellen: Hula-Ketten in Vereinsfarben hängen direkt neben Mini-Shirts für die Kleinen. Schräg gegenüber erblickt man einen Stand, der irgendwie SPD ist – hier bekommt der schlendernde Dortmunder seine Currywurst, Rot-Weiß, Pommes dazu. Über allem thront das Riesenrad, wie das Glücksrad am Grünenstand ständig in Bewegung – wandelhaft wie der Mond. Etwas, was die FDP, an derem Stand Frau Löhrmann auf dem Weg zur Bühne der Grünen vorbeikommt, wohl wie keine andere Partei derzeit erfährt: Das Abwärts nach dem Aufwärts. Ein eifriger Wahlkämpfer rückt heran, in der Hand schon die Flyer zum Verteilen bereit als er die Spitzenkandidatin erkennt. Ein Laut der Überraschung entfährt ihm, hastig zieht er sich zurück hinter die feste Burg seines Parteistandes.

Es ist die Gelegenheit der Kommunalpolitiker sich in Szene zu setzen, eine Gelegenheit für die Wahlkämpfer erneut die Argumente hervorzuholen warum man die Grünen wählen sollte – „Jeder Dortmunder duscht für den Flughafen!“ – und während Trittin eine dieser häßlichen Plastik-Hula-Ketten in den Vereinsfarben Schwarz-Gelb überreicht bekommt, nimmt das einstudierte Frage-und-Antwort-Spiel seinen Lauf. Immer wieder ein Seitenhieb des Moderators auf die Piratenpartei, „hier wird halt geredet und geantwortet, da gibt es kein ‚das müssen wir noch erst erarbeiten'“. Allerdings kommt das an einem Moment ins Schwanken, als die Frage nach der Kennzeichnungspflicht für Polizisten aus dem Publikum kommt. Da muss Frau Löhrmann passen, es springt aber einer der Kommunalkandidaten ein.

Sehr einig ist die Ablehnung der sogenannten Herdprämie, die nur dazu führen wird dass Familien die auf Transferleistungen angewiesen sind ihre Kinder zu Hause lassen werden. Dies, so Trittin, sei eindeutig eine Bevorzugung der oberen Schichten, die Grünen würden dies nicht unterstützen. Applaus erhält Frau Löhrmann auch, als sie erwähnt dass NRW das einzige Bundesland sei, das von zwei Frauen in 20 Monaten erfolgreich geführt wurde. „Vor allem wollen wir einem Grundsatz treu bleiben: Wir wollen nicht sofort jeden Vorschlag von der Opposition verwerfen sondern ihn uns ansehen und wenn er gut ist, ihn auch akzeptieren.“ Dies, so Löhrmann weiter, sei etwas, was man aus der Zeit der Minderheitsregierung gelernt und was der politischen Arbeit gutgetan habe. „Der pragmatische Ansatz mit dem ich und Frau Kraft uns bei Fragen verständigten ist etwas, was die Menschen zu schätzen gelernt haben,“ sagt sie, bei Clement sei dies schwieriger gewesen, Clement hätte Sachfragen immer auf die Machtebene hochgehoben. Trittin nickt zustimmend, er hat da ja so seine Erfahrungen.

Und die Menschen? Wollen diese auch dass Rot-Grün weiterhin regiert? Fragt man die Leute auf der Straße, so bekommt man ein eindeutiges Stimmungsbild: Ja, Rot-Grün habe dem Land gutgetan. Ja, man gehe davon aus, dass Rot-Grün weiterhin an der Macht bleiben werde. Etwas, was Frau Löhrmann Sorgen bereitet. „Es ist noch nichts entschieden,“ sinniert sie später vor der Reinoldikirche, „die Menschen glauben zwar dass Rot-Grün eine feste Bank sei, sie nehmen es einfach als gegeben hin, aber wir müssen bis zur letzten Sekunde des Wahlabends kämpfen. Jede Zweitstimme, die nicht an uns geht, wird dazu führen dass Frau Kraft sich mit Laschet oder wem auch immer zusammentun muss.“ Sagts und macht sich bereit für das nächste Fernsehteam während zum Schluss auf der Bühne Trommelklänge die Menschen in die Fußgängerzone Dortmunds begleiten.

Die Abendsonne streicht über den Synagogenplatz im Mülheim, ein Kind ist in die dortigen Wasserfontänen gefallen und wird vom Vater an der Hand weggeführt. Der Uhrzeit nach ist es erst 19:12 Uhr, aber es könnte auch High-Noon sein – denn nur wenige Passanten sind um diese Zeit noch unterwegs und selbst die Straßencafes sind nicht so dicht belegt, wie man es vermuten könnte. Die junge Kellnerin des Cafes neben dem Medienhaus sortiert Kabel aus einer Kiste, umschließt dann Stühle und Tische mit ihnen. Welcher vernünftige Mensch allerdings würde solche Plastik-Korb-Flitschen schon stehlen wollen? Hier im Medienhaus merkt man deutlich,w as Frau Löhrmann am Herzen liegt: Die Schulpolitik. Inklusion ist das Zauberwort zu dem sich der Bund verpflichtete, rasch mal eben ein UNO-Papier zu unterschreiben mache sich immer gut, der Bund lasse die Kommunen aber mit der Frage wie das Umzusetzen sei allein.

Hier im Medienforum weht Frau Löhrmann anfangs ein starker Wind entgegen – zu unterschiedlich sind die Erfahrungen mit der Inklusion, berichten Eltern davon dass Behörden mauern, dass es nicht möglich sei, die Inklusion umzusetzen. Frau Löhrmann wirbt für Zeit, wirbt für ein Vorgehen Schritt für Schritt, für ein langsames Vorgehen: „Erstmal muss man bedenken, dass Eltern immer das Beste für ihre Kinder im Kopf haben, dass es immer eine edle Absicht gibt. Dann muss man sich auf die Seite der Behörden versetzen, die Angst vor diesem Neuen haben und deswegen erstmal ganz vorsichtig schauen, wie sie damit umgehen müssen. Keine Seiten handelt in schlechter Absicht, das muss man einfach mal feststellen. Deswegen ist es zuviel gesagt, wenn Eltern meinen, die Behörden würden sie nur drangsalieren. Es ist von Kommune zu Kommune zudem auch unterschiedlich.“ Der Übergangsprozeß, so wirbt sie vor der auserlesenen Zahl der Zuschauer, sei halt kontinuierlich  und bringe seine eigenen Probleme mit sich. “ Man kann nicht einfach das System anhalten, einige Stellen reparieren und wenn er wieder angeschaltet wird, funktioniert alles.“

Die Übergangsphase sei etwas, aus dem man auch lernen könne. Immer noch herrscht Skepsis im Zuschauerraum, werfen sich die Teilnehmer der Diskussion mit Argumenten ins Feld und Sylvia Löhrmann wird das vorherrschende Gefühl auch nicht generell ändern können, indessen aber wertet sie dies später als eine gute Erfahrung: „Es war eine sehr angeregte Diskussionsrunde“ spricht sie gelassen aus. Die Müdigkeit des Tages liegt ihr sichtbar in den Knochen. „Kann ich noch etwas tun?“, fragt sie bevor sie zurück nach Düsseldorf aufbricht und für einen Moment hat man das Gefühl, dass auch sie genauso zerschlagen ist wie man selbst, müde von all den Wortschwällen des Tages. „Nein, alles gut,“ sagt man und blickt ihr nachdenklich hinterher. Wäre es so schlecht, wenn sie weiterhin die Geschicke der Schulen im Land leiten würde, fragt man sich. Andererseits: Natürlich bleibt man auch nicht unbeeinflusst während des Tages, setzt sich der Wechselwirkung des Systems Wahlkampf aus. Die Botschaften des Tages schwirren durch den Kopf und irgendwie ahnt man, dass man doch nichts Definitives sagen können wird. Immerhin aber hat man die Stimmung eines Landes kurz vor der Wahl mitgenommen und würde man tippen müssen, für was sich die Wähler entscheiden, so würde man sicherlich mit Rot-Grün und einem Hauch Orange nicht schlecht liegen. Doch entschieden wird erst in der letzten Sekunde des Wahlabends. Bis dahin wird Sylvia Löhrmann noch mehrere Tage ein Mammutprogramm wie an diesem Tag zu stemmen haben.

Die mobile Version verlassen