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Ein Plädoyer für Netzaktivismus und Online-Journalismus

Nachdem sie über Jahre scheinbar im Hintergrund gewirkt haben, erreichen nun endlich die Netzaktivisten und der Online-Journalismus die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Die Online-Petitionen gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA und die öffentliche Entrüstung bis hin zur Entlassung des Generalbundesanwalts, die den Ermittlungen wegen angeblichen Landesverrats gegen Netzpolitik.org folgten, zeigen uns: Die Plattformen des Internet, von manchen als virtuelle Parallelwelt belächelt und gemieden, haben sich als Machtfaktor neben dem klassischen Journalismus etabliert. Und sie handeln für einen „guten Zweck“.

 

Denn ob man nun für oder gegen die Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada ist, ob man für oder gegen Asyl für Edward Snowden in Deutschland ist: Wo unsere Eliten sonst wie Oligarchen ungestört im Hinterzimmer etwas ausbrüten konnten, wird ihnen nun endlich die Transparenz aufgezwungen, die eine echte Demokratie ausmacht.  Und wo Machthaber sich früher ungeprüft damit herausreden konnten, zum Wohle ihres eigenen Volkes Verhandlungen durchzuführen, wird ihnen nun gerade dort auf die Finger geguckt, wo sie nicht die Interessen des Souveräns wahren, sondern über allen Wolken und ohne Rücksicht auf Verluste gnadenlos „ihr Ding“ durchziehen. Die überheblichen Reaktionen, die sie zumeist auf die Konfrontation mit unangenehmen Enthüllungen folgen lassen, sind dabei Bestandteil des Konzepts. Denn mit nichts entlarvt sich doch ein Machthaber besser, als wenn er auf berechtigte Fragen keine sachliche Antworten liefert und die Muskeln gegenüber dem Souverän spielen lässt, von dem er doch eigentlich in ein paar Jahren wiedergewählt werden will.

 

Dabei ist es gerade in Nordrhein-Westfalen kein neues Phänomen, dass das Internet Wahlen entscheiden kann: Das Duisburger Placeblog Xtranews leistete seinen Beitrag zur Aufklärung der Verfehlungen, die 2010 zur Tragödie der Love Parade geführt hatten.  Und die nordrhein-westfälischen Blogs deckten auch mehrere Affären um „Rent-a-Rüttgers“ auf, die vor Augen führten, dass dem SPD-Klüngel leider keineswegs ein sauberer Neustart, sondern binnen weniger Jahre ein erschreckender CDU-Filz gefolgt war. Wo Zeitungsredaktionen geschlossen und zusammengelegt werden, wo die großen investigativen Journalisten vom Schlage eines Hans Leyendecker (der neben vielem anderen die Flick-Affäre und die Spendenaffäre der CDU aufdeckte) und Erich Böhme (dessen Mut als SPIEGEL-Chefredakteur wir verdanken, dass Uwe Barschels „Waterkantgate“ an die Öffentlichkeit gelangte) weniger werden, dort wachen die Netzplattformen darüber, dass es transparenter und damit (sach-)gerechter und weniger korrupt zugeht. Denn was viele Blogs gegenüber Presse und Rundfunk auszeichnet, es weht dort ein von den Fesseln der Hierarchien und politischen Abhängigkeiten wie auch den Geschäftsregeln der großen Medienunternehmen befreiter, anarchisch-idealistischer Geist. Nicht nur ein elitärer Zirkel kann sich publizistisch betätigen, sondern wir nähern uns dem Ideal eines demokratischen Zugangs zum Journalismus an.

 

Die Angst, dass dadurch der „Qualitätsjournalismus“ aussterbe, ist unbegründet – die Bloggerszene ist sich seiner Begrenzungen bewusst und betrachtet sich als Zeitungsergänzung, nicht als Zeitungsersatz. Zum einen: Was im Internet steht und sorgfältig recherchiert wurde, ist qualitativ ebenso hochwertig – und auf Servern übrigens auch langlebig – wie das, wofür Druckerschwärze pulverisiert und Bäume gefällt wurden. Zum anderen hat auch der Kulturwandel der großen Zeitungen seine positiven Seiten: Dank eines für den Leser großenteils kostenlosen Online-Angebots der Tageszeitungen ist es für den Bürger endlich möglich, sich aus unterschiedlichen Quellen zu informieren. Ich empfinde es als einen Segen, mich nicht für eine „Hauszeitung“ entscheiden zu müssen, sondern parallel die linken Sichtweisen von „neues deutschland“ und „taz“, die sozialdemokratischen von „Frankfurter Rundschau“ und „WAZ“, die liberalen von „Süddeutsche“, „ZEIT“ und „SPIEGEL“ und die konservativen von „WAZ“ und „DIE WELT“ zu lesen und mir abschließend unter Abwägung sämtlicher Argumente meine eigene Meinung zu bilden. Dadurch bin ich politisch so gut informiert wie nie zuvor – Internet bildet, sobald man die Bildung an sich heranlässt!

 

Auch die Interaktivität betrachte ich als großen Fortschritt. Äußerst gerne nutze ich auch die Kommentarfunktion. Als politisch interessierter Jugendlicher ärgerte ich mich jedes Mal, wenn ich mir umsonst die Mühe gemacht hatte, einen Leserbrief zu schreiben, der der Zeitungsredaktion offenbar nicht genug Mainstream war. Dieses Problem kenne ich nun nicht mehr: Ich kann die totale Gegenposition zu einem Artikel vertreten – solange ich fair und respektvoll bleibe und mich an die Spielregeln des guten Tons halte, wird nichts gestrichen. Man muss nur ertragen können, bisweilen auf Mitmenschen zu stoßen, denen weniger an einem konstruktiven Dialog und mehr daran gelegen ist, die Gegenseite in Grund und Boden zu quatschen – wer keine sachlichen Argumente hat, der poltert, im richtigen Leben wie im WWW.

 

Auch das Posten von Zeitungsartikeln in sozialen Medien wie Facebook oder Twitter zwecks sachlicher Diskussion hat sich inzwischen fest etabliert. Es gehört auch immer mehr zum guten Ton, dass unsere Politiker einen professionellen Account pflegen. Ebenso sind Facebook und die #Hashtags unter Twitter zu den Leitmedien der gegen das politische Establishment gerichteten Bürgerbewegungen geworden. Die Berichterstattung über die Proteste im Gezi-Park von Istanbul war nicht auf die stark reglementierten klassischen Medien Funk, Fernsehen, Zeitung angewiesen, sondern viele Informationen sickerten durch die feinen Kanäle der sozialen Netzwerke. Bedenken, der Mensch würde durch das bequeme Klicken auf Online-Petitionen zum bequemen Couch Potato mutieren, der vom Wohnzimmer aus Weltpolitik mache, kann ich nicht teilen. Nein, um Bürgerinitiativen zu organisieren, um überhaupt zu wissen, wann und wo Demos für oder gegen was stattfinden, kann das Internet als „Verteiler“ gar nicht genug gewürdigt werden. Und außerdem: Was ist verkehrt daran, wenn den Introvertierten unter uns ein Medium gegeben wird, in dem sie wahrgenommen werden, wenn sie sich schriftlich artikulieren, ohne dass sie dazu Volksreden schwingen müssen?

 

Nun gibt es ja auch Blogs, deren politische Tendenz einem „gegen den Strich“ geht. Sollte es Blogs mit reaktionären Ansichten, die sich aber noch im gesetzlichen Rahmen bewegen, besser nicht geben? Ich brauche nicht nachzudenken, um aus voller Überzeugung zu finden: Doch, auch diese Blogs gehören dazu! Man muss alles dafür geben, krude Meinungen durch gut reflektierte zu widerlegen – aber gleichzeitig muss man alles dafür geben, dass diese im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung geäußert werden dürfen. Denn wenn wir das einmal einreißen ließen mit den obrigkeitsstaatlichen Eingriffen, würden ganz schnell die Rechten auf den Plan treten und gegen die angebliche „Lügenpresse“ wettern. Oder wir würden uns in Richtung der Türkei begeben, deren Staatspräsident Erdogan die sozialen Medien grundlegend suspekt sind, weil diese Ausdruck unerwünschten eigenständigen menschlichen Denkens und Fühlens sind, dem seiner Auffassung nach mit autoritären Mitteln wie Zensur und Verbot zu begegnen sei.

 

Es ist ja auch nicht so, dass die Deutschen nach rechts gerückt wären. Okay, es gibt PEGIDA, die gab es früher noch nicht. Aber dafür äußerten Politiker, Mitglieder und Wähler der CDU damals offen rechtspopulistische Ansichten, die im bürgerlichen Spektrum negativ auffallen und sich daher weitgehend in die AfD verlagert haben, die die vielen „aufgeklärt-konservativen“ Wähler, ohne mit der Wimper zu zucken, heute rechts liegen lassen werden, weil sie sie nicht mehr als salonfähig empfinden. Das Internet dient manchen als Kloake, um unter dem Schutz vermeintlicher Anonymität endlich „mal richtig die Sau rauszulassen“, in Form von Hasstiraden, für die sie von Angesicht von Angesicht zu feige wären. Aber die dumpf-brütenden Gedanken würden auch existieren, wenn es das Internet nicht gäbe – sie würden sich dann in anderer Form ihren Weg bahnen. Kurz gesagt: Auch wenn mehr Unsinn offen zutage tritt, durch den Pluralismus des Internet, durch das kollektive Wissen werden die Menschen unterm Strich nicht dümmer, sondern schlauer. Und es tritt kein Kulturverfall ein, sondern eine Kulturbereicherung in Form eines neuen Zeitalters der Aufklärung.

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