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Olivier Messiaen – und eine neue musikalische Orientierung

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Das Ruhrgebiet hat nicht viel zu bieten, heißt es, sobald über Künste gesprochen wird. Dabei ist durchaus bekannt, dass relativ viele Leute, die sich zumindest in einer der anerkannten Künste betätigen, aus dem Ruhrgebiet abgewandert bzw. geflohen sind: darunter Literatinnen und Literaten, aber auch Musikerinnen und Musiker. Ruhrgebietler sind kaum in der Lage, künstlerisch Produziertes als eventuell wertvoll zu erachten. Erst wenn etwas von außen vorgekostet und als genießbar beurteilt wurde, kann es geschehen, dass es nach Jahren oder Jahrzehnten Anerkennung findet. – Mehr als eine Einschätzung kann ich aber nicht bieten, ich, Helge Bol, ein in Duisburg arbeitender Komponist, verfüge über kein statistisches Material, wahrscheinlich gibt es ein solches Material auch nicht.

Meine vordringliche Aufgabe galt bislang der Komposition, aber nicht einfach dem Setzen von Noten, sondern, weil ein Spielen der von mir geschriebenen Werke von anderen Musikern kaum zu erwarten war, ebenso dem Einspielen und bereitstellen von EPs über Bandcamp (https://helge-bol.bandcamp.com/). Die Wahl von Instrumenten ist an der musikalischen Praxis ausgerichtet, die mir seit der Kindheit vertraut ist. Die Aufbereitung von Aufnahmen war allerdings über Jahre zu verbessern. Inzwischen verfüge ich über ein Projektstudio, das auf meine speziellen Wünsche und Kenntnisse zugeschnitten ist.

Meine musikalischen Anfänge gestalteten sich kompositorisch schlicht freitonal, für Konzert-Gitarre solo, während des Studiums. Die Noten sind noch heute durch einen Kleinverlag am Niederrhein als PDF lieferbar bzw. stehen dort und auf meiner Website zum Download bereit. Einen tatsächlichen musikalischen Neuanfang bieten sie jedoch nicht. Auch meine erste eingespielte EP, „Schneetage“ für Piano solo, setzt bekannte kompositorische Muster voraus. Die Stücke sind multi-tonal gehalten, in D- und in A-Dur. Erst mit meiner zweiten EP, „Cocktail Spezial“, betrat ich Neuland. Ich entwickelte und gebrauchte kompositorisch eine eigene Skala, die nicht aus den überlieferten Kirchentonarten und den altgriechischen Vorläufern stammt. Eines der Stücke aus „Cocktail Spezial“, das sechste Stück, war allerdings 12-tönig und motivisch gehalten und enthält intern einen ‚Krebs‘ (eine Umkehrung). Die dritte EP, „One-Night-Stand“, brachte gegenüber dem erlangten kompositorischen Schritt nichts Neues ein. Auch dort finden sich sowohl die von mir zuvor entwickelte Skala als auch 12-tönige Stücke, die motivisch gestaltet wurden.

Erst ab der EP „Modular“ (2015) vertraute ich ganz auf eigene Skalen. Zur bereits zuvor gestalteten Skala trat eine weitere hinzu, die nicht traditionell verbürgt ist. Seit dieser Zeit arbeite ich mit Multi-Skalen – und motivisch mit Variationen, bis in die Grundstruktur von Stücken hinein. Meine Vorgehensweise ist durchaus experimentell. Aber wie ließe sich in anderer Weise Neuland betreten?
Mit Skalen zu arbeiten, lässt Erinnerungen an die Musik und Schriften von Olivier Messiaen zu. Er entwickelte ein ‚System‘ von Skalen, von Skalen, die seiner Vermutung nach nur begrenzt transponierbar seien. Einer einfachen Praxis nach lassen sich jedoch alle Skalen beliebig transponieren, nur nicht innerhalb des herkömmlichen Tonartenkonzeps. Eine beliebig transponierbare Skala wäre etwas anderes, eine Auswahl aus einem größeren Tonraum, der z.B. 12-tönig sein könnte, und der von dem alten Tonartenkonzept auch in diesem Skalen-Kontext Abschied nimmt.

Die Aufteilung einer Oktave in zwölf Töne beruht auf einer beliebigen Konvention, die unter anderem Resultat der wohltemperierten Stimmung von Instrumenten ist. Und die vielen Normen des Tonsatzes, die Schönberg damals entwarf, waren in einfacher Weise der tonalen Praxis entgegengesetzt. In der seriellen Musik fand diese Methode eine Fortsetzung: immer mehr Parameter wurden einer kompositorischen Kontrolle unterworfen. Dies ging so weit, bis Unterscheidungen durch die kompositorische Kontrolle kaum mehr hörbar waren, lediglich lesbar.
Mit Skalen zu arbeiten, bietet eine echte Alternative, besonders wenn sie selber entwickelt wurden und aus einem größeren Tonraum stammen, der dem alten Tonartenkonzept nicht mehr folgt. Eine Begrenzung auf den 12-Ton-Raum wäre hingegen praktisch bedingt: Relativ viele Instrumente folgen der wohltemperierten Stimmung, auch relativ viele Musiker bzw. Spieler.

In meiner derzeit jüngsten EP, „Helge Bol spielt mit François Couperin“, habe ich meine neue Vorgehensweise musikhistorisch genutzt. François Couperin bot in seiner Schrift „L’art de toucher le clavecin“ an, im Spiel mit dem Faktor Zeit zu experimentieren. Ich erweiterte die Praxis, wandte das Experiment auch auf Veränderungen in den verwendeten Skalen an und schuf in dieser Weise Variationen. Besonders deutlich werden die Variationen durch die Interpretation von vier Preludien aus „L’art de toucher le clavecin“. Aber auch vier tänzerische ‚Pièces de clavecin‘ wurden in der EP nicht verschont.

Mir ist es im Grunde egal, ob es sich der Tradition nach um Club-Musik, um Jazz oder Klassik handelt. Als ich mit der Entwicklung eigener Skalen begann, zu „Cocktail Spezial“, formte ich Club-Musik, konkret Acid Jazz. Der sechsteilige Aufbau der EP „Modular“ kann an eine Barock-Suite erinnern, obgleich sie mit Multi-Skalen und für Synthesizer entwickelt wurde. Mein aktuelles, noch nicht gänzlich erschienenes Projekt, ‚Trio Work‘, ist den Instrumenten und dem Charakter der Stücke nach für ein Jazz-Trio geschrieben. Die EP „Kunstlieder für Sampler über das Sterben der Arten“ beschäftigt sich multi-skalenhaft mit wortlosen aber gesungenen Liedern. Es ist ein eigenes musikalisches Universum, dass ich zu schaffen erhoffe.

Es wäre durchaus möglich, meine musikalische Arbeit sehr grob als Verarschung der gesamten westlichen Musikwelt zu betrachten. Dieses Urteil bezöge sich allerdings nur auf meinen Umgang mit den traditionellen Konventionen, auch solchen jüngeren Datums, ließe aber die Autonomie außer Acht, die erforderlich ist, um Neues künstlerisch zu leisten.

Homepage: https://www.helgebol.de/
Bandcamp: https://helge-bol.bandcamp.com/
Soundcloud: https://soundcloud.com/helge-bol

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