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Gute Nacht Volksparteien – guten Morgen Jamaica!

Das verhältnismäßig schwache Abschneiden der Bundestagswahl dürfte für CDU/CSU und SPD gleichermaßen ernüchternd bis schockierend gewesen sein. Warum sind die beiden Stützpfeiler der alten Bundesrepublik dermaßen ins Wanken geraten?

Schluss mit Neuer Mitte: In den Arbeitervierteln des nördlichen Ruhrgebiets erlitt die SPD ihre herbsten Stimmverluste, viele wählten stattdessen die rechtsradikale AfD. 

Wer Union wählte, wählte diesmal gleich zwei Parteien. Zwischen dem liberalen Teil der CDU, der Merkel unterstützt, und der CSU bzw. dem konservativen Flügel der CDU, allen voran der sächsische Landesverband, liegen inzwischen Welten. Der unversöhnliche Streit, welchen Horst Seehofer über die verfassungswidrige Obergrenze für Flüchtlinge angefacht hat, sagt im Grunde alles und hat der Union massiv geschadet. Wirkte Merkels stoische Gelassenheit 2005 in der legendären Elefantenrunde mit dem Macho Gerhard Schröder sehr sympathisch, ist sie inzwischen zur Arroganz der Macht mutiert. Diese kam beispielhaft darin zum Ausdruck, wie das Kanzleramt den Medien den Verlauf des Kanzlerduells vorschrieb. Die international hoch angesehene Kanzlerin, auf deren Nüchternheit zwischen den Irrlichtern auf aller Welt wir Grund haben, stolz zu sein, hat sich ihre glühenden Bewunderer auch mit ihren konsequenten Ansagen gegen Nationalismus und Fremdenhass verdient. Aber viele, die sie daheim wählen sollen, nehmen es ihr auch übel, dass sie sich für ihre eigenen Befindlichkeiten und Ängste nicht mehr sonderlich interessiert. Diese Entpolitisierung des öffentlichen Raums, die in Deutschland stattgefunden hat, ist ja manchmal nicht mehr zum Aushalten! Das heißt freilich nicht, dass nach rechts zu rücken die bessere Alternative wäre; denn wie Horst Seehofer und der sächsische Ministerpräsident Stanislav Tillich erfahren mussten, ist es ihnen ja in ihren eigenen Bundesländern gerade nicht gelungen, die AfD klein zu halten, indem sie deren Parolen in abgeschwächter Form kopieren.

Der Anfang vom Ende der SPD kam mit der Agenda 2010 von Gerhard Schröder. Die Stammwählerschaft hat der SPD den größten Sozialabbau in der deutschen Nachkriegsgeschichte nie verziehen, hat ihn als Verrat empfunden. Statt ihre eigenen Fehler aufzuarbeiten und zu einer grundlegenden Neuausrichtung zu kommen, hat die SPD alles daran gesetzt, sich die Hartz-Reformen schönzureden und ein paar kosmetische Korrekturen vorzunehmen. Dies in Verbindung mit dem jahrelangen Festklammern der alten Garde an Ministerämtern im Rahmen einer Großen Koalition trägt dazu bei, dass die SPD von Arbeitnehmern nicht mehr als Alternative zum vorherrschenden Neoliberalismus wahrgenommen wird. Daran konnte der viel zu spät begonnene, viel zu zaghafte Gerechtigkeits-Wahlkampf von Martin Schulz nichts mehr ändern. Die Große Koalition ist nun abgewählt; und es bleibt zu hoffen, dass die SPD standhaft bleibt und sich nicht nochmals zur Übernahme von „Verantwortung“ (die man wohl besser masochistische Hilfsdienerschaft nennen sollte) drängen lässt.

Große Gewinnerin der Wahl ist die immer mehr nach rechts gerückte Protestpartei AfD. Dies freilich sollte niemanden dazu verleiten, sich obsessiv mit jedem Rülpser aus den Mündern von Gauland und Weidel zu beschäftigen. Weniger Aufmerksamkeit ist mehr. Gelingt es, für die nächsten vier Jahre eine gute Regierung zu bilden, die dann auch noch die am dringendsten auf den Nägeln brennenden Probleme löst und endlich den unerträglichen Einfluss der Industrie-Lobbyisten zurückdrängt, wird auch die Politikverdrossenheit wieder abnehmen, die überhaupt erst zur Wahl der Blauen geführt hat. Hilfreich wären, trotz oder vielmehr wegen der deprimierenden AfD-Erfolge in Sachsen und im nördlichen Ruhrgebiet, auch ein Ende des überheblichen Ossi-Bashing (der abgedroschene Witz mit dem „antifaschistischen Schutzwall“ auf der einen Seite, auf der anderen Seite, dass auch in der „Emscherzone“ nördlich der A40 viele Menschen wohnen, um deren Nöte man sich mal nicht nur kurz vor Wahlen kümmern muss.

Die glänzenden Fassaden täuschen über den Frust hinweg: In Sachsen wurde die AfD stärkste Partei, noch vor der CDU.

Am nächsten liegt im Moment eine so genannte Jamaica-Koalition zwischen CDU/CSU, FDP und Grünen, die nach neuesten Umfragen auch deutlich an Zustimmung in der Bevölkerung gewinnt. Man muss kein Merkel-Fan sein, um ihr dennoch zuzutrauen, dass sie die nächsten vier Jahre mit ihrer Ausgeglichenheit und ihrem Pragmatismus die nicht immer einfachen Regierungsparteien in den Griff bekommt. Damit die Koalition funktioniert, ist es wichtig, dass jeder der Partner „seine“ Projekte zugestanden bekommt und nicht jedes Thema zu kleinlichen Kompromissen verwurstet wird. Dann nämlich wird diese Koalition das schaffen, was Deutschland so dringend benötigt, um seinen Wohlstand zu sichern: nämlich in der Industriepolitik die Weichen für die Zukunft stellen, nachdem Kohle- Stahl- und Autoindustrie und der Finanzsektor so tief in die Krise gerutscht sind. Die Grünen werden eine Verkehrs- und Agrarwende durchsetzen, die FDP die Digitalisierung und Entbürokratisierung („Entfesselung“) vorantreiben wollen – es sind diese Zukunftsprojekte, warum viele, die durchaus Kanzlerin Merkel gegenüber grundsätzlich positiv bis neutral gestimmt sind, dennoch diese beiden kleineren und beweglicheren Parteien gewählt haben. Im Zuge der Diesel-Affäre darf die Politik nicht mehr gemeinsame Sache mit der Autoindustrie machen, sondern kann nur neues Vertrauen aufbauen, indem sie sich als deren glaubwürdige Kontrollinstanz beweist und neue Trends in den Ländern wie China ernst nimmt, in die Deutschland exportiert.

Am wichtigsten aber wird sein, dass Grüne, FDP und der fortschrittliche Teil der Union ein Einwanderungsgesetz auf den Weg bringen, das es ermöglicht, mehr qualifizierte Zuwanderer dauerhaft nach Deutschland zu holen und hier zu integrieren. Bleibt zu hoffen, dass der Fundi-Flügel der Grünen nicht reinpfuscht und die Koalition platzen lässt, weil er irrtümlich glaubt, eine demokratische Legitimation für eine ungesteuerte Masseneinwanderung und die Abschaffung von Abschiebungen erteilt bekommen zu haben, die der Sozialstaat, der Arbeitsmarkt und die Bürokratie dann auch mühelos bewältigen werden und gegen die nur Nazis etwas einzuwenden haben können.

Und soziale Gerechtigkeit? Die hätte letztes Mal eine rot-rot-grüne Mehrheit gehabt; herzlichen Dank auch an die SPD, dass sie diese nicht genutzt hat. Diesmal spielt sie eher in der Form eine Rolle, dass brave und tüchtige Arbeitnehmer die Nase voll davon haben, dass ihnen prekäre Beschäftigungsverhältnisse, Rente mit 72 und Pflegenotstand als alternativlose Zukunftsvisionen verkauft werden. Sollte Jamaica auch hier die eine oder andere Verbesserung anpeilen, was schon fast ein bisschen viel Hoffnung für den begrenzten Zeitraum von vier Jahren wäre, dann hätten sie tatsächlich eine Chance, nicht nur bei den Glückskindern, sondern auch bei denen, die sich abgehängt fühlen, neue Wählerschichten zu erschließen und somit die AfD wieder in die Ecke der Bedeutungslosigkeit zu verbannen, in die diese hingehört.

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