So wie ein Langzeitarbeitsloser mit seiner Verzweiflung die Arbeitgeber abschreckt, die er so dringend überzeugen müsste, hat der Ansehensverlust der SPD mittlerweile eine dramatische Eigendynamik angenommen. Seit Jahren sieht die Arbeitsteilung so aus, dass die Kanzlerin für die gemeinsamen Erfolge der GroKo die Lorbeeren einheimst. weil alles unter ihr so reibungslos läuft, während Misserfolge wie Pattex an der SPD hängen bleiben – und sei es nur, weil sie zufällig eine Landesregierung in einem bestimmten Bundesland stellt. So geht das schon seit Jahren; und mittlerweile hat das Drama der politischen Linken die nächste Stufe erreicht: Merkel hat mit einer künstlichen Gemütlichkeit das Land so in Watte gepackt, dass sie sich nun als Fels in der Brandung gegen die zaghaftesten Forderungen des Koalitionspartners SPD und der grünen Opposition nach einer anderen Politik gibt. Das funktioniert so subtil und raffiniert, dass viele Wähler es nicht einmal bemerken.
In dieser komfortablen Stimmung perfektioniert Merkel zunehmend ihre Doppelrolle als Schrödingers Katze, die einen Standpunkt und gleichzeitig dessen Gegenteil vertritt, um es allen recht zu machen. Ein Musterbeispiel hierfür ist ihre Flüchtlingspolitik: Mit „Wir schaffen das.“ und „…sonst ist das nicht mehr mein Land.“ erklärte sie sich zur Vorreiterin einer gefühligen Willkommenskultur der Bahnhofsklatscher; selbst Grüne waren plötzlich aus dem Häuschen und schwärmten in höchsten Tönen vom vermeintlichen Linksruck. Derweil wurde eine Schikane nach der anderen durch den Bundestag gejagt, um den Zustrom zu begrenzen und den Anschluss an die konservative Stammwählerschaft der Union nicht zu verlieren. Auf die Spitze trieb Merkel ihr doppeltes Spiel in der Frage der Ehe für alle: In einem „Brigitte“-Interview schnitt sie die Möglichkeit an, um als Initiatorin der nächsten gesellschaftlichen Revolution gefeiert zu werden. Gleichzeitig stimmte sie selbst im Bundestag dagegen, um bei hartgesottenen Konservativen als Wahrerin des traditionellen Familienbildes dazustehen. Kurz nachdem die Ehe für alle beschlossene Sache war, dachten Innenminister Thomas de Maizière und CSU-Chef Horst Seehofer in bester Guerilla-Manier laut über eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht nach.
Trotz der Räumung etlicher traditioneller CDU-Positionen ist sie in einem Punkt unbeirrbar hart geblieben: Nach wie vor redet sie den Deutschen ein, dass es ihnen doch allen so gut gehe, dass jedem eigentlich alle Möglichkeiten offen stünden, dass das doch alles so bleiben möge und dass man den Vermögenden nicht an ihr Vermögen dürfe. Angeprangerte Missstände wie der immer angespanntere Wohnungsmarkt oder die drohende Altersarmut der jüngeren Generationen werden konsequent und unbarmherzig weggelächelt. Wenn es eine Konstante in Merkels Kanzlerschaft gibt und bis zum Ende geben wird, dann ist es die, dass nicht von oben nach unten umverteilt wird, sondern nur von unten nach oben oder allenfalls von der Mitte zur Mitte – Klassenkampf von oben. Der Weg bereitet wird ihr durch eine wenig selbstbewusste SPD, die in der GroKo jeglichen Anspruch, für mehr Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen, bereitwillig aufgegeben hat und nur kurz vor der Wahl mit ein paar solidarischen Parolen und lauem Erfolg die Herzen zu wärmen versucht.
Wir bekommen eine Vorahnung vom Bundestagswahlkampf: Die Regierung wird die Botschaft verkaufen, was die Opposition für eine schlechte Regierungsarbeit geleistet hat, weshalb man wieder Merkel wählen soll, damit nichts passiert. Diese geradezu zynische Haltung brachte kürzlich der ehemalige Hamburger Bürgermeister Ole von Beust auf den Punkt, der es nicht für nötig hielt, dass die CDU dem Rentenkonzept der SPD ein eigenes entgegensetzt: „Beim Wahlkampf geht es um Werbung. Persil wirbt auch nicht mit der chemischen Zusammensetzung seines Waschmittels sondern schafft ein Grundvertrauen, dass die Leute sagen: „Persil, da weiß man was man hat.“ Die entscheidende Frage in diesem Wahlkampf ist: Wem trauen die Wähler am ehesten zu, in einer immer unruhiger werdenden Welt für möglichst viel Stabilität zu sorgen. Und nicht: Wer hat das bessere Rentenprogramm?“
Merkel bewies den richtigen Instinkt, indem sie sich frühzeitig, eindeutig und immer wieder vom aufkeimenden Rechtspopulismus der AfD und von von PEGIDA distanzierte. So schob sie der Integration von revolutionärem Fremdenhass in ihren eigenen, gemäßigt weltoffenen und auf ein „Weiter so“ gerichteten Konservativismus ein für alle mal einen Riegel vor. Die Gegenseite hingegen offenbart sich, schonungsloser denn je ausgeleuchtet, in ihrer ganzen Zerstrittenheit. Während die SPD sich staatstragend gibt und für den vor dem Gipfel in seiner Härte durchaus von einigen Seiten kritisierten Polizeieinsatz Hartmut Duddes politisch verantwortlich ist, relativierten und beschönigten die sehr linken Kräfte die Geschehnisse und erweckten so den Eindruck, mit Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung durchaus zu sympathisieren. So ließ Andreas Beuth, der Sprecher der Roten Flora, verlautbaren: „Wir als Autonome und ich als Sprecher der Autonomen haben gewisse Sympathien für solche Aktionen, aber bitte doch nicht im eigenen Viertel, wo wir wohnen. Also warum nicht irgendwie in Pöseldorf oder Blankenese?“ Das Attac-Gründungsmitglied Werner Rätz schob die Schuld für die Eskalation alleine der Polizei zu und beließ es bei einem eiskalten „Wenn wir uns distanzieren, nützt das keinem, und wenn wir uns nicht distanzieren, nützt das auch keinem.“
Die Unionsparteien greifen die Steilvorlage dankend auf und zetteln die Gegenrevolution an. Ich kann es ja sogar verstehen: Die linken Revoluzzer, Karl Marx, Ché Guevara, die ganzen Woodstock-Musiker waren alle irgendwie sexy. Und rechts, welche narzisstische Kränkung, hatte man nur diesen kackbraunen Adolf mit der Rotzbremse. Da lauert man doch nur auf die Genugtuung, späte Rache zu nehmen, wenn die politische Linke geistig komplett ausgebrannt ist. Autos abfackeln und Fenster einschlagen auf der anderen – tiefer kann man ideell wirklich nicht mehr sinken; und linke Presseorgane wie „neues deutschland“ oder „der Freitag“ tuteten teilweise ins gleiche Horn und konnten einfach nicht zugeben, dass das alles einfach nur großer Mist war. Da scheint sich die nihilistische Wut über die eigene Ohnmacht im Neoliberalismus Bahn zu brechen. Und so werden die, die anderer Leute Eigentum zerstören und körperliche Unversehrtheit missachten, am Ende zu den fleißigsten Wahlhelfern des Konservativismus. Die Grünen aber müssen, nachdem sie die Homo-Ehe durchgesetzt und eine Erweiterung der sicheren Herkunftsländer verhindert haben, sich mühsam neue Minderheiten zusammenklauben, die ihnen ihr unermüdliches Engagement mit ein paar bescheidenen Wählerstimmchen als Brosamen dankt. Und sie müssen sich mit der polternden Arroganz der Vereinfacher arrangieren, die ihnen den Stinkefinger zeigen, wenn die von ihnen vermittelten ganzheitlichen Denkansätze zu unbequem oder komplex sind. Damit sich die, denen diese Restaurationsbewegung zum Hals heraushängt, auch ja nicht zu gemütlich wird, gibt es den neuen kategorischen Imperativ, kollektiv alles toll finden zu müssen, was zur Stabilisierung der Verhältnisse beiträgt. Die Polizisten, auch wenn sie in Hamburg keinen Erfolg hatten: die Helden der Stunde, denen man danken muss. Und nicht vergessen, immer fleißig auf den Weihnachtsmarkt und auf die Kirmes, auch wer mit Volksfesten vorher wenig am Hut hatte; nicht dass die Islamisten noch denken könnten, sie hätten ihr Ziel erreicht und uns den Spaß verdorben.