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Vorwärts, sonst vergessen

Vom SPD-Wähler zum Heimatlosen – und wieder zurück? Ein Beitrag von Jens Schmidt zur aktuellen Debatte „Sozialdemokratie, quo vadis?“

Von Bundesarchiv, Bild 183-1987-0909-423 / Sindermann, Jürgen / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5664616

Nachdem ich, dessen Grundschulzeit in den 80ern durch die beginnende Ära Helmut Kohl geprägt war, die politischen Turbulenzen um Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und NATO-Doppelbeschluss nur am Rande mitbekommen hatte, gab es zwei Großereignisse, die mein politisches Bewusstsein sehr nachhaltig prägten: Das eine war die Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl, die sich vor genau 30 Jahren ereignete. Wie einen Krimi verfolgte ich, der ich in Schleswig-Holstein aufwuchs, 1987 als Sextaner die Barschel-Affäre, auch „Waterkantgate“ genannt. Der SPIEGEL hatte unter dem damaligen Chefredakteur Erich Böhme den schmutzigen, durch Bespitzelungen und Verleumdungen geprägten Wahlkampf des CDU-Ministerpräsidenten Uwe Barschel gegen den Herausforderer Björn Engholm von der SPD aufgedeckt. Ich erlebte also die CDU als reaktionären Kampfverband, der quasi Kalten Krieg auf westlichem Terrain spielte, mit einem eiskalten Karrieristen, der die Schurkenrolle ideal ausfüllte – bis zum rätselhaften Tod in der Badewanne des Genfer Hotels Beau Rivage nach einem Treffen mit einem Herrn Rohloff und angeblichen Waffengeschäften, die zwielichtige Kulisse war also perfekt.

 

Der smarte, intellektuelle Björn Engholm dagegen, der im bis dato stramm konservativen Schleswig Holstein eine satte absolute Mehrheit einfuhr, musste für jemanden wie mich, der Willy Brandt gar nicht und Helmut Schmidt

Bundesarchiv, B 145 Bild-F080691-0010 / Wegmann, Ludwig / CC-BY-SA 3.0

nicht bewusst als Kanzler miterlebt hat und der von der SPD keine traditionellen „Malochertypen“ erwartete, die ideale Lichtgestalt verkörpern – einen norddeutschen Kennedy quasi, um diesen arg strapazierten Vergleich zu bemühen. Dank Engholm modernisierte sich die politische Atmosphäre Schleswig-Holsteins grundlegend, der selbstgefällig-autoritären CDU war ein „weicherer“, diskursiverer Regierungsstil nachgefolgt. Engholm wurde schließlich Nachfolger Hans-Jochen Vogels als SPD-Bundesvorsitzender – nicht durch einen harten Machtkampf, sondern, typisch für ihn, indem er gerufen wurde. 1993 stolperte er schließlich darüber, dass er früher als bisher zugegeben von der Barschel-Affäre gewusst hatte und dass einer sein Landessozialminister dem „Kronzeugen“ Reiner Pfeiffer einen größeren Geldbetrag in bar geschenkt hatte, um ihn in seiner aufgrund seiner Aussagen entstandenen Notlage zu unterstützen. Fans lassen viel durchgehen, und so habe auch ich in meinem damals klar in Gut und Böse unterteilten Weltbild die so genannte „Schubladenaffäre“ als Lappalie abgetan und den Rücktritt Engholms von seinen Ämtern als Beweis seines politischen Anstands durchgehen lassen. Wenn ich heutige Interviews von Engholm lese, macht er einen sehr aufgeräumten Eindruck, wie ich es mir von vielen anderen SPDlern wünschen würde; er kann die aktuelle Situation seiner Partei gut auf den Punkt bringen und hat sich die Bescheidenheit bewahrt, sich nicht als besserwisserischer Elder Statesman ins Rampenlicht drängen zu wollen. Somit bin ich sehr geneigt, ihm seinen „Ausrutscher“, für den er bereitwillig wie kaum ein anderer Politiker die Verantwortung übernommen hat, als Ausweis fehlender professioneller Abgebrühtheit nachzusehen.

 

Ansonsten war meine Wahrnehmung der SPD von grundsoliden älteren Herren wie Hans-Jochen Vogel, Johannes Rau und Rudolf Scharping geprägt, die mir sympathischer als die doch arg konservative Truppe Helmut Kohls waren, aber auch keine Begeisterungsstürme hervorriefen. Ich denke, es ist das Normale, dass ich als junger Mensch nicht für Sachpolitik und Parteiprogramme zu begeistern war, solange dahinter keine Persönlichkeit steckte, die sie vermittelte und die mich beeindruckte.  Schließlich kam es erst zum erfolgreichen „Putsch“ Oskar Lafontaines gegen Rudolf Scharping und dann zum Showdown zwischen dem SPD-Linken und saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine und dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder, der die SPD in Richtung „Neue Mitte“ führen wollte.

 

Ich war 1998 sehr enttäuscht, dass Schröder sich durchsetzte. Sollte das die lang und sehnsüchtig erwartete Wende gewesen sein? 16 Jahre Kohl, und nun stellte die SPD einen „Genossen der Bosse“ auf, der das Soziale am liebsten leugnen, der bloß nicht zu weit links sein wollte und, schlimmer noch, den Eindruck erweckte, als politischen

Von Campus Symposium GmbH, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=19496803

Gegenspieler nicht die CDU, sondern den grünen Koalitionspartner zu bekämpfen. Die Herkunft aus kleinen Verhältnissen diente nicht dazu, Politik für die Ärmeren zu machen, sondern wurde zur rührseligen Rudimentär-Folklore für Kumpel Karl degradiert, während Schröder, dieser Parvenü, sich mit Statussymbolen (Brioni-Anzüge, Cohiba-Zigarren) nach unten abgrenzte. Das rot-grüne Projekt, für die Grünen eine Herzensangelegenheit, wurde von der SPD geradezu sadistisch mit Füßen getreten; im Prinzip nicht ganz neu, hatte 1994 Rudolf Scharping als Kanzlerkandidat Rot-Grün ausgeschlossen und war 1997 Henning Voscherau als Hamburger Erster Bürgermeister nach einer Bürgerschaftswahl zurückgetreten, da er sonst mit den Grünen hätte koalieren müssen. Ich erinnere mich mit Grausen an ein Interview, in dem Schröder „mehr Fischer und weniger Trittin“ forderte. Schon lange vor der Agenda 2010 mochte ich instinktiv seine machohafte Attitüde nicht, seine großspurigen Auftritte in der Boulevardpresse – und dann war da noch dieses Schröder-Blair-Papier. Ausgerechnet mit dem britischen Premierminister Tony Blair hatte er sich zusammengetan, dessen Kameraauftritte perfekt durchgestylt waren, der das angebliche „Cool Britannia“ und „New Labour“ verkörperte, der die neoliberale Politik Margret Thatchers nicht rückgängig machen wollte, der mit missionarischem Eifer ebenfalls alles schlecht redete, was eigentlich Sozialdemokratie ausmachte, der sich sogar damit brüstete, nie einem Bettler Geld gegeben zu haben. Eine Rolle für die veränderte Stimmungslage mag gespielt haben, dass der Fall des Eisernen Vorhangs als Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus interpretiert wurde.

 

Ich sollte leider Recht behalten. Der Atomausstieg, das neue Einwanderungsgesetz – die grünen Herzensprojekte wurden mit Gusto verwässert, Letzteres maßgeblich durch den Ex-Grünen Otto Schily, der sich als Innenminister rasch zum autoritären Hardliner gewandelt hatte. Der Spitzensteuersatz wurde von 53% auf 45% abgesenkt, das Rentensystem wurde mit Hilfe der Versicherungslobby um Walter Riester teilprivatisiert, was vielen in meiner Generation im Alter, wenn keine grundlegende Korrektur folgt, voraussichtlich einige Probleme bescheren wird. Schröder umgab sich systematisch mit Neoliberalen beziehungsweise förderte deren Fortkommen – Bodo Hombach, Wolfgang Clement, Bert Rürup und viele andere – und mobbte die SPD-Linken heraus; die Kaltstellung des Finanzministers Oskar Lafontaine, der später aus der SPD aus- und den Linken beitreten sollte, war das spektakulärste Beispiel. Franz Müntefering, zunächst Generalsekretär und später Parteivorsitzender, diente mit seiner schlichten Rhetorik der Inszenierung einer authentischen Sozialdemokratie, quasi Brot und Spiele für die Basis und eine Beruhigungspille für die Wählerschaft, damit Schröder ungestört von lästigen Grundsatzdiskussionen schalten und walten konnte. Mein Eindruck war zeitweise, dass sich bei den SPD-Wählern, mit denen ich mich unterhielt, Denken und Reden gewandelt hatten. Auf Sozialhilfeempfänger zu schimpfen, jeden sozialen Rückschritt mit angeblichen Sachzwängen zu rechtfertigen, gehörte zum guten Ton.

 

Den Tiefpunkt der Schröder-Ära markierten dann die unter dem Schlagwort „Agenda 2010“ initiierten Hartz-Reformen. Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe stand ja schon länger auf der Tagesordnung, und grundsätzlich ist eine solche Vereinfachung ja nicht verwerflich. Der VW-Manager Peter Hartz hatte jedoch ein bürokratisches Monstrum präsentiert, und das unter den gleichberechtigten Schlagworten „Fördern und Fordern“. Um dieses als Gesetze zu beschließen, war Rot-Grün auf die Zustimmung des CDU-dominierten Bundesrates angewiesen. Infolge der Aufschnürung des Pakets wurde daraus ein reines Maßnahmenbündel, um an den Arbeitslosen zu sparen und sie zu schikanieren. Aber was will man auch von einem Kanzler erwarten, der den Schwächsten der Gesellschaft eiskalt mitteilt: „Es gibt kein Recht auf Faulheit.“ Als wäre die damals höhere Arbeitslosigkeit die Schuld der Arbeitslosen gewesen, die sich einfach nicht auf die massenhaft vorhandenen Stellen beworben haben – was für ein schlichtes Weltbild, in dem man sich da bequem einrichtet, nur weil man selber es geschafft hat! 10 Jahre später können wir genau sehen, wie verheerend die sozialen Auswirkungen der Hartz-Reformen sind: Die Einkommens- und Vermögensschere ist weiter auseinandergegangen; und das verkündete Ziel, Langzeitarbeitslosen über prekäre Arbeitsverhältnisse den Wiedereinstieg in den ersten Arbeitsmarkt zu ermöglichen, wurde klar verfehlt. Wie sollte es auch erreicht werden, wenn gleichzeitig die Arbeitsvermittlung und das Fallmanagement der Bundesagentur für Arbeit kaputtgespart werden? Was mich am meisten ärgerte, war die vertane Chance eines Politikwechsels: Da war die SPD mal nach langer Zeit wieder dran, und was machte sie? Sie vergeudete die Zeit zur Fortsetzung einer CDU/FDP-Politik, damit diese dann dort mit dem Sozialabbau weitermachen konnten, wo die Genossen fleißig vorgearbeitet hatten.

 

Die SPD kostete die Agenda 2010 letztlich die Kanzlerschaft. Dennoch fiel sie weich; denn während Schröder als Lobbyist für Gazprom unterkam, konnten die Sozialdemokraten in der Großen Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel immer noch viele Ministerposten besetzen. Damals war ich durchaus für die GroKo, zumindest als vorübergehende Lösung fand ich es gut, wenn die beiden Volksparteien sich zusammenraufen mussten. Allerdings habe ich doch zwei Dinge ziemlich unterschätzt; nämlich erstens, wie undankbar die Rolle des Juniorpartners ist, und zweitens, wie bequem sich die SPD in den veränderten Machtverhältnissen einrichten würde. Im Grunde konnten die „Schröderianer“ wie Frank-Walter Steinmeier (Außenminister) oder Peer Steinbrück (Finanzminister) ihre im Durchschnitt nicht mehr allzu lange Zeit bis zum Ruhestand komfortabel überbrücken – mit Posten waren sie ja versorgt. Warum also sich für einen Politikwechsel engagieren, wo es sich doch unter einer Kanzlerin Merkel mitlaufen ließ, ohne selbst gestalten zu müssen. So musste man sich praktischerweise auch nicht damit auseinandersetzen, dass die eigene Politik der Glaubwürdigkeit der SPD geschadet haben könnte, sondern konnte staatstragend mit Hilfe von Bankenrettung, Abwrackprämie und der Einführung der Abgeltungssteuer von 25 %, einer massiven Besserstellung von Kapitaleinkünften gegenüber Arbeitseinkünften, weiter von unten nach oben verteilen. In der Folge hat die SPD auch bis heute nie ernsthaft versucht, ihren großen Sündenfall Agenda 2010 aufzuarbeiten, von dem sie sich bis heute nicht erholt hat.

 

Der ganz harte Fall folgte 2009; die SPD rutschte mit dem farblosen Spitzenkandidaten Steinmeier unter 25 % ab, und die FDP übernahm von der SPD die Rolle des Mehrheitsbeschaffers. Im Grunde markiert diese Zäsur den (vorübergehenden?) Verlust des Status einer Volkspartei; denn auch der jetzige zweite Aufguss der GroKo basiert nach Steinbrücks unglücklichen Wahlkampf („hätte hätte, Fahrradkette“, Stinkefinger und Diskurse über den Preis eines guten Rotweins) nur auf 25 % Stimmenanteil. Leider wurde ein guter Ansatz nach der Wahl schnell wieder vergessen, den Steinbrück im Wahlkampf vorgelegt hatte – nämlich ein Konzeptpapier zur Bankenregulierung, welches eine Aufteilung in Kredit- und Investmentbanking vorsah. Ebenso bedauerlich fand ich, dass trotz rechnerischer rot-rot-grüner oder grün-schwarzer Mehrheit keine dieser Optionen riskiert wurde.

 

Auf der Habenseite hat die SPD den Mindestlohn zu verbuchen, der gottlob nicht so löchrig ausfiel, wie nach den strammen Kampagnen der Wirtschaftslobbyisten zu fürchten war. Dafür wird Hartz-IV-Empfängern der Gürtel noch enger geschnallt; die Bundeszuschüsse für die gesetzliche Krankenversicherung wurden erheblich gekürzt, was zu einer dauerhaften Beitragserhöhung führt. Ach ja, und wer sich ein Elektroauto als Zweitwagen leisten kann, kriegt

Sigmar Gabriel – Foto Thomas Rodenbücher

zur Belohnung eine Prämie – hast du, dann wird dir oben druff gegeben, Abwrackprämie reloaded. Der neueste Plan ist, dass die Ein-Euro-Jobs, die nachweislich den wenigsten Langzeitarbeitslosen bei der Rückkehr in den ersten Arbeitsmarkt helfen, zeitlich weiter ausgedehnt werden dürfen. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, in seinen besseren Momenten ein kluger Redner mit Talent zum Volkstribun, hat sich durch Sprunghaftigkeit und eine rücksichtslose „Genosse-der-Bosse“-Politik selbst geschadet, hat auch den Eindruck erweckt, dass er gegen den Willen der Bevölkerung und unter Manipulation der Öffentlichkeit die umstrittenen Freihandelsabkommen TTIP und CETA durchzuboxen bereit ist. Die in die SPD eingetretene Gelsenkirchener Reinigungskraft Susanne Neumann legt den Finger in die Wunde und prangert schlagfertig an, wie die SPD, die mittlerweile in Umfragen auf 20 % abgesackt ist, die Nöte der Unterprivilegierten in unserer Gesellschaft aus dem Auge verloren hat.

 

Nun stelle ich also fest, dass mir über die Jahre der innere Kompass verloren gegangen ist. Lange Zeit war ich immer für die rot-grünen Koalitionen, einfach weil ich gegen Schwarz-Gelb war, weil ich glaubte, das sei trotz allem immer noch das „geringere Übel“, denn unter CDU und FDP würden die Einschnitte noch radikaler ausfallen. Andererseits sehe ich nicht länger ein, mit meiner Stimme die schlechte Kopie einer neoliberalen Politik zu unterstützen, nur weil diese durch ein paar symbolische Gesten oder Wahlgeschenke aufgehübscht wird.  Sich anzuhören „Die SPD hat’s verbockt“ ist ganz gewiss nicht vergnüglicher, als sich über die FDP oder CSU aufzuregen. Nicht oder ungültig zu wählen, ist für mich als politisch bewussten Menschen keine Option, da ich mich so meiner bescheidenen Möglichkeit begebe, auf die nächste Legislaturperiode einzuwirken. Wer die Grünen wählt, wird zunehmend auch mit Schwarz-Grün rechnen müssen – einer Koalition, die auf Landesebene gut funktioniert, dies auch auf Bundesebene tun sollte, aber aufgrund ihrer „gutbürgerlichen“ Ausrichtung für eines eher nicht stehen wird: einen Politikwechsel in Richtung mehr soziale Gerechtigkeit. Die Linken sind einerseits die einzige Partei, die noch uneingeschränkt die sozialen Anliegen vertritt; andererseits beantworten sie die Frage nach der Finanzierbarkeit nicht immer befriedigend. Auch sind sie, nachdem sie sich 2013 ernsthaft um eine Koalition mit SPD und Grünen bemüht hatten, mit Ausnahme des thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow wieder sehr in die Rolle der Fundamentalopposition zurückgefallen, so dass die Stimme für die tatsächliche Umsetzung eines Politikwechsels ebenfalls verschenkt sein könnte.

 

Wenn ich nun zurückblicke, was mich, ebenso wie wahrscheinlich viele Stammwähler, von der SPD entfremdet hat, dann ist es die Enttäuschung darüber, dass sie ebenso wie die anderen den Sozialstaat abbaut und eine Politik betreibt, die die soziale Kluft zwischen Arm und Reich immer stärker auseinanderdriften lässt. Die einen, wie Gerhard Schröder, Wolfgang Clement, Bodo Hombach, Peer Steinbrück, Henning Voscherau oder Thilo Sarrazin, traten mit selbstgefälliger Attitüde vor die Kamera und klopften markige Sprüche, stellten ihre Nähe zu den „Großkopferten“ offen zur Schau und droschen gnadenlos auf die Ärmsten und Schwächsten ein. Die anderen, wie Franz Müntefering, Frank-Walter Steinmeier oder Hans Eichel, gaben sich betont bescheiden, um die biedere Fassade des aufrechten Sozialdemokraten zu wahren, betonten aber gleichzeitig verdruckst die angebliche Alternativlosigkeit weiterer Einschnitte. Es fand eine Verlagerung der Diskurshoheit statt, indem nur noch jene gefördert wurden, die stromlinienförmig den neoliberalen Mainstream mittrugen. Der Sozialflügel wurde milde belächelt und bekämpft – um den Preis, dass die bis dato eher chaotische westdeutsche WASG, die später in der Linkspartei aufging, mit dem Überläufer Oskar Lafontaine eine wichtige Ikone erhielt, die ihren Aufstieg in den alten Bundesländern einläutete. Die Linke füllt eine schmerzhafte Lücke aus, die die Sozialdemokratie bis heute hinterlassen hat. Denn selbst eine frühere Parteilinke wie Andrea Nahles ist mittlerweile im Mainstream angekommen, nur Ralf Stegner hält tapfer die Stellung.

 

Der Politologe Franz Walter hat in seinem Buch „Die Transformation der Sozialdemokratie“ die veränderte Struktur der politischen Eliten in der SPD verantwortlich gemacht, die sich bereits seit Jahrzehnten abzeichnet. Die SPD hatte sich ja bereits mit dem Godesberger Programm von 1959 ausdrücklich dazu bekannt, keine reine Arbeiter-, sondern eine Volkspartei zu sein. Dabei verstand sie sich als Partei des sozialen Aufstiegs – also als Partei der Chancengleichheit, die mit einer anti-elitären Bildungspolitik es vielen Kindern ermöglichen wollte, mehr Wohlstand zu erreichen als ihre Eltern. In der SPD machten viele Karriere, die aus kleinen Verhältnissen aufgestiegen waren – und die immer weniger daran dachten, auch etwas für die zu tun, die den Aufstieg nicht geschafft hatten oder noch vor sich haben. Die SPD hat in den letzten Jahrzehnten sehr viele Mitglieder verloren, charakteristisch sind mittlerweile, neben einer überdurchschnittlichen Schulbildung, hohes Durchschnittsalter und viele Rentner. Das ist alles andere als ungefährlich; denn es schreckt junge Menschen davon ab, in die SPD einzutreten, wenn sie sich dort derartig unterrepräsentiert fühlen – ein Teufelskreis. Und das hohe Alter des durchschnittlichen SPD-Wählers verleitet die Partei auch dazu, Klientelpolitik für die Rentner von heute zu machen und die Rentner von morgen zu vergessen. Die Hartz-IV-Empfänger hingegen gehen kaum noch wählen und treten erst recht nicht mehr in die SPD ein, von der sie sich verraten fühlen – folglich werden auch ihre Interessen immer weniger durch die SPD vertreten.

 

Was kann nun die SPD tun? Als Volkspartei ist sie anderen Rechtfertigungszwängen ausgesetzt als die Linke. Sie muss eine realistische Regierungsoption anbieten, kann sich nicht auf Frontalopposition oder auf die Rolle eines Koalitions-Korrektivs beschränken; denn sonst tritt sie nicht für einen Politikwechsel an. Und vor allen Dingen muss Bestandteil eines glaubhaften Gesamtkonzepts eine stimmige Wirtschaftspolitik sein. Vielleicht Gerhard Schröders verheerendste Äußerung, die sich leider bis heute in die DNA der SPD eingenistet zu haben scheint, ist die steile These, es gebe keine linke oder rechte, sondern nur gute oder schlechte Wirtschaftspolitik. Die darin enthaltene unausgesprochene Schlussfolgerung ist die, nur neoliberale Wirtschaftspolitik sei gut, oder sei überhaupt als Wirtschaftspolitik ernst zu nehmen. Das ist schlichter Unfug; es lag vielmehr an den handelnden Politikern, dass sich der Neoliberalismus, vertreten von Ökonomen wie Friedrich-August von Hayek oder Milton Friedman, in den letzten Jahrzehnten immer mehr durchgesetzt hatte. Es gibt auch eine linke Wirtschaftspolitik, der britische Ökonom John Maynard Keynes hatte sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelehrt, und bis weit über den New Deal des US-Präsidenten Roosevelt hinaus wurde sie praktiziert. Bis heute wird sie vertreten, nur nutzt nicht einmal die SPD die Chance, sie aufzugreifen.

 

Was macht linke Wirtschaftspolitik aus, was ist der Unterschied zum Neoliberalismus? Grundlage des Neoliberalismus bildet das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte des Marktes: Sei der Markt aus dem Gleichgewicht geraten, so werde er sich am besten ohne staatliche Eingriffe wieder einrenken. Der Sozialstaat wird als Freiheitseinschränkung bekämpft, da fremdes Geld für andere ausgegeben werde – weil ja denen, die viel Geld hätten, ihr Reichtum aufgrund ihrer Leistung auch zustehe, während die, die es nicht geschafft hätten, selbst für ihre Armut verantwortlich seien. Es wird eine möglichst überschießende Leistungsbilanz angestrebt, d.h. die Wirtschaft wird durch günstige Standortfaktoren wie Lohnzurückhaltung, niedrige Abgaben und wenig Regulierung zu möglichst viel Produktion angeheizt, um dann durch einen möglichst offenen Freihandel möglichst viel zu exportieren statt zu importieren. Die Nullzinspolitik, die ja überhaupt nur als „Medizin“ notwendig wird, damit die Folgen des Neoliberalismus nicht in eine schwere Wirtschaftskrise münden, wird von den Neoliberalen als Enteignung des Sparers zugunsten des Verschwenders betrachtet.

 

Dem gegenüber gehört „Autos kaufen keine Autos.“ zu den Leitsätzen des Keynesianismus. Der soziale Ausgleich diene also, vereinfacht ausgedrückt, auch dem Wirtschaftswachstum, weil mehr Nachfrage entstehe, wenn nicht nur die Reichen Geld in der Tasche hätten (das großenteils angelegt und damit dem Wirtschaftskreislauf entzogen wird), sondern auch etwas zugunsten der Ärmeren umverteilt werde (die das Geld dann auch ausgeben würden). In der Krise sei es falsch, weiter zu sparen, denn dadurch werde auch die öffentliche Nachfrage und damit die gesamte Konjunktur abwürgt. Ein allzu großer Leistungsbilanzüberschuss sei für keine Volkswirtschaft gut, da er letztlich dazu führe, dass Kapitalanlagen in Länder mit unsicheren Wirtschaftsperspektiven abfließen. (Der deutsche Staat kann sich ja, was gerne vergessen wird, auch über Wertpapiere Geld beim Bundesbürger leihen – nicht die schlechteste Variante der Staatsverschuldung.) Überhaupt sei es schädlich, wenn der Staat sein ganzes Tafelsilber privatisiere, da er damit seinen Kapitalstock verringere. Solche Lehren werden in unterschiedlichen Ausprägungen von renommierten Wirtschaftswissenschaftlern wie Peter Bofinger (einem der fünf deutschen Wirtschaftsweisen), Heiner Flassbeck (Lafontaines Staatssekretär, auf dessen Übernahme Schröder nach Lafontaines Rücktritt verzichtete und der später Chef-Volkswirt bei der UNCTAD werden sollte) oder Gustav Horn vertreten.

 

Warum lehnt die SPD also den Rat derer ab, auf deren Fundament sich eine sozialere und dabei seriöse Wirtschaftspolitik begründen lässt? Stattdessen begnügt sich die SPD mit Sparprogrammen, schröpft die ohnehin gebeutelten Arbeitslosen und rockt das Rentensystem runter, als stünde sonst der Zusammenbruch der Staatsfinanzen bevor, und traut sich aus übertriebener Angst vor Kapitalflucht nicht (oder verweigert sich), an eine Besteuerung größerer Vermögen heranzugehen. Im Grundgesetz steht ja nicht ohne Grund: „Eigentum verpflichtet.“ Und eine gute Wirtschaftspolitik kann sich doch nicht in der Erreichung abstrakter Kennzahlen erschöpfen, sondern muss der Mehrheit der Wähler zugutekommen und die Privilegierten dafür in die Pflicht nehmen. „Wohlstand für alle“, um mit Ludwig Erhard zu sprechen – nur dass die Bedingungen jetzt andere sind als nach dem Zweiten Weltkrieg.

 

Angesichts der Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse wie Leiharbeit, die nur in seltenen Fällen zu einer dauerhaften Anstellung führen, muss sich die SPD auch fragen, welches Gesellschaftsbild sie vertritt. Findet man es im Willy-Brandt-Haus wirklich unverschämt, dass Menschen irgendwann im Leben ankommen wollen und nicht jahrzehntelang dauerflexibel sein können? Vielleicht wollen sie einmal eine Familie gründen – das kostet Geld. Und Deutschland braucht mehr Kinder, um den Generationenvertrag aufrecht erhalten zu können – schon vergessen? Sollen sich die Menschen nach 67 siech zur Arbeit schleppen, um der Altersarmut zu entgehen? Sind die Pflegebedürftigen für einen Sozialdemokraten der nutzlose Teil der Menschheit, der hoffentlich bald wegstirbt, weil Pflege so teuer ist und bei den Pflegestandards so vieles im argen liegt? Ein hochentwickeltes Land sollte sich doch gerade dadurch auszeichnen, dass die Menschen weniger Angst davor haben müssen und ihre Würde respektiert wird, wenn sie unverschuldet in Not geraten! Es kann schließlich jeden von uns treffen; gerade dann kommt es darauf an, dass unser System funktioniert, nicht nur in den Sonnenstunden.

 

Spätestens als die OECD Deutschlands soziale Ungerechtigkeit als Wachstumskiller für die Wirtschaft anprangerte, hätten die Alarmglocken schrillen müssen – doch die mahnenden Rufe verhallten bei den deutschen „Ordnungspolitikern“ wiederum ungehört. Die Kritik der linken amerikanischen Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und Paul Krugman am deutschen Neoliberalismus wurde ebenfalls widerwillig zur Kenntnis genommen – nach dem Motto, die USA wollen uns halt unsere tollen Exporte kaputtmachen. Es gibt im 21. Jahrhundert auch hochkarätige Ökonomen wie den Franzosen Thomas Piketty („Das Kapital im 21. Jahrhundert“) und den DIW-Chef Marcel Fratzscher („Verteilungskampf“), die mehr die Investitionsschwäche als Hemmnis betonen. So wären dringend höhere Bildungsausgaben und auch Investitionen in die Infrastruktur notwendig, um ein solches Wirtschaftswachstum zu gewährleisten, dass eine Versorgungslücke im Rentensystem und damit Altersarmut verhindert werden kann. Wenn zu vielen Unterprivilegierten durch ein ungenügendes Schulsystem Lebenschancen verbaut würden, könnten sie später auch keinen Beitrag zu einer produktiven Volkswirtschaft leisten, sondern seien von Sozialleistungen abhängig.

 

Ein solcher Denkansatz ist wichtig, denn der SPD sollte es ein Herzensanliegen sein, Menschen nicht mit Transferleistungen am Tropf zu halten (die man sich ihrer Meinung nach eigentlich nur schlechten Gewissens leisten kann), sondern vorrangig eine aktive Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Es ist trostlos, wenn das sozialdemokratische Denken vom „faulen Hartzer“ bestimmt wird, der endlich mit einem Ein-Euro-Job beglückt werden muss, um sich nicht mehr im Jogginganzug auf der Couch mit der Bierflasche in der Hand langweilen zu müssen. Nein, in einer Zeit, in der die meisten hier Gott sei Dank nicht mehr hungern müssen, ist es um so wichtiger, den Anschluss an unsere Gesellschaft zu behalten, statt stigmatisiert werden – und den Familien, die ihn verloren haben, die Hand zu reichen, um ihn wiederzuerlangen. Dazu gehört, dass auch Kinder aus ärmeren Familien, die deswegen ja schließlich nicht dümmer sind, in der Schule gleiche Chancen erhalten (wovon wir momentan weit entfernt sind), aber auch, dass auch ein Hartz-IV-Empfänger mal ins Theater gehen kann. Und dass die Kommunen nicht derartig geschröpft werden, dass sie Schulen, Schwimmbäder, Kulturzentren etc. schließen müssen und Sozialprogramme wie Sprachförderung oder Schuldnerberatung streichen müssen. Hier liegen die linken Ökonomen und der Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, mit seinem Konzept der „relativen Armut“ dicht beieinander: Nicht die Abfütterung des Prekariats an der Tafel oder die Wiederbelebung des Proletarierstolzes sollte das Leitbild bestimmen, sondern eine nach oben durchlässigere Gesellschaft, die statt „einmal unten, immer unten“ wieder das Rüstzeug zum sozialen Aufstieg bereitstellt. Wobei es sicherlich kontraproduktiv ist, wenn die Regelsätze für Alg-II-Empfänger mit künstlichen Rechentricks so heruntergedrückt werden, dass einige ihre Stromversorgung verlieren oder sogar obdachlos werden oder in die Überschuldungsfalle geraten. Denn statt nur zu verurteilen, dass die dann eben sich nicht genug Mühe beim Bewerben gegeben haben, könnte es ja vielleicht auch so gewesen sein, dass ihnen psychische oder sonstige gesundheitliche Probleme für eine Zeit die Energien geraubt haben – was bei Arbeitslosen häufiger vorkommt als bei anderen. Auch für die Integration der Flüchtlinge müssen wir mehr ausgeben, und wir sollten nicht zu lange damit zögern. Man kann über Flüchtlingspolitik diese und jene Auffassung vertreten, für „refugees welcome“, für die Merkel-Politik oder für Grenzmauern sein, das will ich an dieser Stelle nicht vertiefen. Aber sobald Menschen in Deutschland bleiben, ist es unsere verdammte Pflicht, ihnen dabei zu helfen, dass sie auf eigenen Beinen stehen können. Und das Geld ist vorhanden, solange wir es für viel nutzlosere Dinge ausgeben; und es ist in jedem Falle gut angelegt, wenn aus Leistungsempfängern Arbeitnehmer werden, die in unsere Kassen einzahlen!

 

Von welchem Standpunkt aus man es betrachtet: Die SPD hat ihren Markenkern, die soziale Gerechtigkeit, in den letzten Jahrzehnten völlig links liegen gelassen, und muss ihn, wenn sie ihre letzte Chance nutzen will, endlich reaktivieren. Und denen, die sich zum Büttel der Initiative Soziale Neue Marktwirtschaft machen, indem sie behaupten, Ungerechtigkeit schaffe Leistungsanreize und sei gut für die Wirtschaft, muss endlich der Wind aus den Segeln genommen werden: Nein, Ihr fallt auf die Milliardenkampagnen Eurer politischen Gegner rein! Aber um Paroli bieten zu können, muss man sich geistig gut rüsten, muss sich mit den Ökonomen befassen, die das Partei-Establishment am liebsten totschweigt oder als naive Fantasten brandmarkt. Und natürlich muss man auch die klugen Gedanken derer aufsaugen, die den Neoliberalismus von der Warte einer humanistischen Hochkultur statt auf die Excel-Tabelle starrend betrachten, die nämlich „Mehr Mensch! Gegen die Ökonomisierung des Sozialen“ (um einen Buchtitel Ulrich Schneiders zu zitieren) fordern. Und man kann sich gar nicht genug über den verheerenden Einfluss der Wirtschaftslobbyisten in Berlin und Brüssel informieren; denn nur mit Wissen, nicht mit Empörung aus dem Bauch heraus, kann man denen Paroli bieten, die nie um einen Grund verlegen sind, ihre Privilegien aufrechtzuerhalten oder die soziale Kluft zu vertiefen.

 

Schröder war der Auffassung, dass Wahlen in der Mitte gewonnen werden müssten. Nur, was heißt Mitte? Mitte heißt nicht, an den Sozialdarwinismus derer zu appellieren, die es zu ein wenig Wohlstand gebracht haben, damit sie kräftig nach unten treten. Mitte heißt, eine Politik zu betreiben, die die nivellierte Mittelstandsgesellschaft, die jahrzehntelang nach dem Zweiten Weltkrieg gut funktioniert hat, im Zeitalter der Globalisierung weitgehend aufrecht erhält. Das dient der Stabilisierung und Befriedung und damit auch der Bekämpfung der AfD, der man noch keinen einzigen Wähler abspenstig machen wird, indem man jeden Montag gegen Pegida auf die Straße geht, sich über falsche Rechtschreibung lustig macht und traditionsbeseelt darauf verweist, dass die SPD irgendwann Anno Zwickzwack mal gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz gestimmt hat.

 

Aber solange die SPD nicht einmal mehr die Ambition zu mehr sozialer Gerechtigkeit verfolgt und jeden, der Kritik an der Agenda 2010 übt, als sozialromantischen Deppen belächelt (um zum Abschluss eine Frage zu beantworten, die mir mancher Sozi, ein wenig angesäuert gestellt hat, wenn ich seine geliebte „alte Tante SPD“ von außen kritisierte); solange gerade die Ruhr-SPD sich als Anwältin des „einfachen Volkes“ verkauft, aber nichts gegen Kinderarmut tut, sich selbst lukrative Pöstchen zuschanzt und jede Form der Bürgerbeteiligung abwehrt – solange denke ich nicht mal dran, einzutreten. Da schreibe ich lieber frei weg von der Leber meine Artikel, engagiere mich in der einen oder anderen Bürgerinitiative, ohne dass ich mir Ärger mit der Obrigkeit einer hierarchischen Parteiorganisation einhandle.

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