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Der neue Spiegel ist Ausgeliefert

Die Titelseite des neuen Spiegel zeigt einen Blick aus dem Flugzeug auf ein Gebirge. Der Gipfelkamm befindet sich dummerweise auf Augenhöhe, und im Fenster steht in fetten Lettern „Ausgeliefert“. Für all diejenigen, die nun immer noch nicht wissen, worauf Deutschlands führendes Nachrichtenmagazin anspielt, noch eine Unterzeile. Gleich groß, nicht fett, dafür aber in rot: „Ein Pilot, 149 Opfer“. Alles klar: der Pilot ist der Co-Pilot, der als Täter schon rein rechnerisch nicht zu den 149 Opfern gehört, die am letzten Dienstag in den französischen Alpen ums Leben kamen. Sie waren, so weit hat der Spiegel schon Recht, diesem Piloten „ausgeliefert“. Wobei das Titelbild freilich weit mehr signalisiert: nämlich dass jeder von uns, sobald er ein Flugzeug besteigt, ausgeliefert ist. Dem Zustand der Maschine, also dem Wissen und der Zuverlässigkeit der Ingenieure des Herstellers wie der Airline. Der Gewissenhaftigkeit der Sicherheitsbeamten wie der privaten Security-Leute am Airport. Und natürlich dem fliegerischen Können und, wie wir jetzt wissen, dem guten Willen des Flugpersonals.

Es ist nicht zu bestreiten: wir sind ausgeliefert. Und zwar total, auf Gedeih und Verderb. Allein: das sind wir nicht nur im Flugzeug. Wir sind es – auch und gerade – im Auto. Wir gehen davon aus, dass der Typ im entgegenkommenden Wagen uns gesehen hat, obwohl er gerade seine eMails checkt. Wir können einfach nicht davon ausgehen, dass uns auf der Autobahn jemand entgegenkommt, der seinen Arbeitsplatzverlust und / oder seine Ehekrise nicht für sich allein an einem Brückenpfeiler bewältigen will. Wir sind sicher, dass der Heizungsmonteur absolut in Ordnung ist, weil wir den ja aus einigen Besuchen ganz genau kennen. Wir verlassen uns auf den Arzt, den wir bitten, uns den Blinddarm herauszunehmen. Kein Problem, diese OP ist ein Routineeingriff, und Ärzte führen von Hause aus nichts Böses im Schilde. Ein wenig anders könnte es, wie wir in letzter Zeit wiederholt lesen mussten, bei den Krankenpflegern aussehen. Zugegeben: da könnte man Pech haben. Auch dem Meister und seinen Lehrlingen in der Kfz -Werkstatt können wir nur vor den Kopf gucken.

„Leben ist immer Ausgeliefertsein“, schreibt Dirk Kurbjuweit im Leitartikel der aktuellen Spiegel-Ausgabe. Ja genau: in dem Heft mit dem mulmig machenden Titelbild. Wir wissen: andersherum wäre ja auch blöd. Auf der Titelseite „Alle sind von allen abhängig“ samt eines Bildes, das die Funktionsweise der globalisierten Gesellschaft verständlich illustriert. Dann im Innenteil reißerische Geschichten über psychopathische, lebensmüde Massenmörder, die eine allgegenwärtige Gefahr für uns und unsere Lieben darstellen. Wir wissen: so könnte man es nicht machen. Nachrichten müssen verkauft werden; die Gesetze des Marktes gelten auch für den Spiegel. Nun gut, der Medienmarkt besteht aus verschiedenartigen Segmenten. Der Spiegel bedient eine andere Zielgruppe als etwa die Bild. Hierzulande gelten andere Verhaltenskodizes für die Presse als etwa in Amerika oder erst recht als in Fernost. Deshalb gehen auch unterschiedliche Medien aus unterschiedlichen Nationen in unterschiedlicher Art und Weise mit der Flugzeug-Katastrophe vom letzten Dienstag um.

Es liegt freilich am Internet, dass kein mir erinnerliches Ereignis so stark von Medienkritik begleitet wurde und wird wie der Germanwings-Flug 4U9525. Das kann nicht nur am Internet und der dadurch allen Menschen eröffneten Möglichkeit liegen, Meldungen zu kommentieren und Medien zu kritisieren. Das Internet gibt es nämlich schon etwas länger, und dass politische Außenseitergruppen die Medien in Gänze als „Lügenpresse“ denunzieren, soll auch schon vorgekommen sein. Hier jedoch liegt der Fall völlig anders, womit nicht gesagt sein soll, dass es keinerlei kritikwürdiges Verhalten einiger Pressevertreter gegeben hätte. Abstoßend sind die Berichte aus Haltern über das respektlose und unwürdige Verhalten bestimmter Journalisten gegenüber Angehörigen und Mitschülern von Opfern. Man mag auch kritisieren, dass an den ersten beiden Tagen, als die Ursache der Katastrophe noch nicht bekannt gewesen ist, der Appell, mit Rücksicht auf die Betroffenen auf entsprechende Spekulationen zu verzichten, weitgehend ungehört verhallt ist. Doch solche Kritik wäre müßig.

Sie ist auch relativ wenig geäußert worden. Vielmehr wird an allem und jedem herumgemäkelt – mit unterschiedlichen, teils entgegengesetzten Intentionen. Deutlich wird dies an der Frage, ob Bild und Name des Co-Piloten, also des Täters, veröffentlicht werden dürfen oder nicht. Oder ob das Foto verpixelt und der Nachname abgekürzt sein müsse. Ein regelrechter Glaubenskrieg tobt um dieses Problem, ein Ende ist nicht absehbar – auch jetzt nicht, nachdem dieser nicht mehr unter uns Weilende längst mit Namen und Gesicht bekannter ist als so mancher Bundesminister. Die einen können ihre Wut kaum bändigen und ereifern sich darüber, dass „dieses Schwein geschont“ werde. Die anderen geben zu bedenken, dass die Menschen- und Persönlichkeitsrechte auch für Andreas L. zu gelten hätten. Beides ist offensichtlich absurd: Herr L. kann weder bestraft noch können seine Rechte verletzt oder geschützt werden. L. ist tot. Die Suche nach dem Schuldigen ist beendet. Der Versuch, Lufthansa bzw. Germanwings etwas in Sachen Personalauswahl anzuhängen, gestaltet sich schwierig.

Als Ziel der Wut steht der Schuldige nicht mehr zur Verfügung. Nicht einmal seine Angehörigen, gegen die sich mittlerweile die Racheobsessionen richten, ist für den Pöbel greifbar. Familie Lubitz und das Haus in Montabaur werden von der Polizei geschützt. Insofern bleibt nur die Medienschelte. Es ist bekanntlich jahrhundertealter Brauch, den Überbringer der schlechten Botschaft stellvertretend für den tatsächlichen, jedoch unerreichbaren Übeltäter zu bestrafen. Dass die medienkritischen „Personenschützer“ tatsächlich annehmen, der Familienname des Täters ließe sich verheimlichen und so seine Verwandten auf ihrem restlichen Lebensweg vor Ausgrenzungen und Diskriminierungen schützen, ist schwer zu glauben. Vielmehr konstruieren sie ein Tabu im Wissen um die vorhandenen und noch folgenden „Tabubrecher“, die dann ihrerseits als Zielscheiben für sie selbst und ihre Wut zur Verfügung stehen. Ein Ereignis dieser Dimension, dem notwendig ein Medienereignis bislang kaum gekannter Dimension folgt, kommt einfach nicht ohne Schuldige aus.

Wenn man nur wüsste, woher diese große Wut kommt. Es sei die Fassungslosigkeit, mit der wir zurückgelassen würden, lesen wir. Das Unbegreifliche. Allerdings: Flugzeugabstürze und andere Katastrophen, Selbstmorde und Morde sind meist gar nicht so schwer zu begreifen. Der Germanwings-Flug 4U9525 war nach nicht einmal zwei Tagen im Grunde aufgeklärt. Sicher, es werden noch Informationen zum Flug ergänzt, es wird jetzt alles über das Leben des Andreas L. zutage gefördert, die Lufthansa wird sich Fragen zu ihrem Personalmanagement gefallen lassen müssen. Doch im Grunde ist der Fall klar: wenn ein Pilot den Entschluss fasst, die Maschine abstürzen zu lassen, dann ist Ende im Gelände. Unbegreiflich? Einfach das Zwei-Personen-Prinzip im Cockpit einführen und schon sind wir nie wieder „fassungslos“? Schwer zu glauben. Es ist nicht zu ändern: wir sind ausgeliefert. Im Flugzeug, im Auto, sogar zu Hause – immer und überall. Anderen Menschen ausgeliefert. Völlig fremden Menschen. Das ist für viele offenbar schwer zu ertragen. Dabei können Menschen so großartig sein. Man denke nur an die Leute in Seyne-les-Alpes.

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