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Alternative Akzentetexte: Heimat ist, wo Du ankommst

Duisburger Akzente zur Heimat? Wir dokumentieren Texte von verdienstvollen Duisburgern. Die nach hier, nach Lehr- und Wanderjahren, kleben geblieben sind. Die Texte waren Grundstein einer Lesung in der Rheinhauser Galerie ‘Dat Atelljee’.

Drei Texte haben wir bislang gefangen, einen pro Tag werden wir veröffentlichen. Die Texte sind lang, aber die Geschichten der Menschen sind hochinteressant.

Als Zweites folgt der Text von Gilda Krauser, der härtesten Zionistin seit Golda Meir, die schon Cobol sprach, als niemand Rechner hatte.

Gilda Krauser

Mitten in den Baby-Boomer Jahren kam ich zur Welt, in Frankreich, genauer gesagt in Lothringen, in einer kleineren Stadt nahe der deutschen Grenze. Von Baby an war ich bei meinen Großeltern. Wie alle Kinder musste auch ich sehr früh in den Kindergarten, den ich gar nicht leiden konnte. Vierzig Mädchen in einer Klasse! Nein, das war zu viel für ein Einzelkind. Und auch noch ganztags, bis auf die übliche Mittagspause von 12 bis 14 Uhr. Dann in die Grundschule. Es wurde ganz streng auf die Trennung zwischen Jungs und Mädchen geachtet. Und wehe es wagte sich mal ein Junge auf unseren Teil des Schulhofes. Und plötzlich war man mit 11 Jahren im Lycée, so ähnlich wie Gymnasium. Dort waren die Klassen gemischt, also immer noch 40 Schüler und mehr. Hier kamen die Schüler aus der gesamten Region. Außer meiner Jugendfreundin waren dann alle bekannten Kinder verschwunden.

In der 6è (erstes Lycée Jahr) kam die erste Fremdsprache dazu: Englisch. Ein Jahr später Latein und die zweite Fremdsprache Italienisch.

Wieso kein Deutsch?

Selbstverständlich ist meine Muttersprache Französisch. In dieser grenznahen Region gibt es aber einen Dialekt, den die älteren Menschen damals fast alle sprachen, also auch meine Großeltern. Es ist ein Gemisch aus Deutsch und Französisch. Ein Deutscher versteht ihn nicht unbedingt. Die etwas Jüngeren sprechen diesen Dialekt nicht mehr. Ich konnte mich mit diesem Kauderwelsch in Deutschland aber ganz gut durchschlagen.

Gilda unscharf – sie mag keine Bilder von sich

Und somit trat ich dann Ende der Siebziger eine Stelle in Deutschland an. Da ich fast ausschließlich mit EDV-Abwicklung zu tun hatte, musste ich also kaum Deutsch schreiben. Die EDV-Dinosaurier wissen es noch: Alle Programme waren auf Englisch geschrieben.

Ich habe also in Deutschland gearbeitet, bin aber täglich von und zu meinem Wohnort in Frankreich gependelt. Wozu sollte ein Franzose überhaupt sein Land verlassen! Und da erfülle ich voll die Klischees. Der Franzose an sich ist eher bodenständig und reist auch nur im eigenen Land. Ins Ausland? Wer weiß, was es dort zu essen gibt!

Die damaligen EDV-Abläufe konnten schon extrem langweilig sein. Stundenlang musste man bis in die Nacht hinein warten, dass ein „Reo“ gelaufen war. Also habe ich noch Betriebswirtschaft studiert. Ja, in Deutschland, mit meinem Kauderwelsch, das sich mit den Jahren stark verbessert hatte. Und somit konnte ich auch nach relativ kurzer Zeit Deutsch schreiben. Natürlich nicht fehlerfrei. Das kann ich bis heute nicht.

Da ich in einem großen Konzern arbeitete, bekam ich nach meinem Abschluss ein Stellenangebot als Kosten-Rechner (den Begriff „Controller“ gab es damals noch nicht) in der Konzern-Zentrale. Jetzt war -und ist noch immer- diese Zentrale in Hamburg. Damit war dann Schluss mit Pendeln. Und mein Kauderwelsch? Kein Problem, mehrere Kollegen waren Briten und deren Deutsch war quasi nicht vorhanden.

Wohl oder übel musste ich also nach Deutschland auswandern und kam erstmals in Kontakt mit der deutschen Bürokratie. Es gab damals noch keine EU, also brauchte ich eine Aufenthaltsgenehmigung. Die Ausländer-Behörde befand sich im „Bieberhaus“ in Hamburg. Es war grauenvoll. Hunderte von Menschen aus der gesamten Welt, die in den Fluren und Aufenthaltsräumen stundenlang warten mussten. Und ich mittendrin. Nach mehreren Stunden hielt ich dann dieses Papier in den Händen, befristet auf fünf Jahre. Aber das Wichtigste überhaupt: die Steuerkarte. Ein Franzose kennt keine Steuerkarte. Was hat mich die Dame aus der Personalabteilung damals genervt. Ich wohnte ja noch im Hotel, aber Steuerkarte war muss, egal mit welcher Adresse. Am Ende des Monats wusste ich dann, wozu diese Steuerkarte notwendig war: In Deutschland muss man die Steuern im Voraus zahlen!

Nach ein paar Monaten bezog ich dann meine erste Wohnung in Deutschland. Der Zirkus ging weiter. Abmelden in Frankreich, Anmelden in Deutschland. Das Auto musste auch umgemeldet werden. Und in Frankreich gibt es keinen Fahrzeug-Brief. Also musste dieser zuerst besorgt werden. Wie umständlich. Und mein Führerschein! Der wurde eingezogen und ich bekam einen deutschen.

Jetzt lebte ich also in Deutschland. Der Kontakt zu meinen Freunden riss ziemlich schnell ab. Obwohl ich, trotz der großen Distanz, noch häufig nach Hause fuhr, war die Zeit leider zu knapp für andere Besuche.  Und Telefon? Bei den heutigen Flatrate Preisen kann man es sich nicht mehr vorstellen, aber die Telefongebühren ins Ausland waren extrem hoch. Und französische Fernseh-Sender? Die gab es auch nicht. Mein gewohntes frisches, knuspriges Baguette auch nicht, fehlte mir aber nicht. Nachdem ich festgestellt hatte, dass es in Deutschland so viele leckere Brötchen gibt, wozu also diese schwabbeligen Dinger kaufen?

Wie in einem Konzern üblich, sind berufliche Aufstiege fast immer mit Umzug verbunden. Nach mehreren Stationen landete ich dann in Duisburg. Auch hier wohnte ich die ersten Monate im Hotel. Dann war irgendwann Messe in Düsseldorf. Mist. Mein „Stamm-Hotel“ war restlos ausgebucht und sämtliche Hotels in der gesamten Umgebung auch. Keine Chance, die Aussteller hatten ja schon vor einem Jahr reserviert. Unsere Chef-Sekretärin war aber sehr pfiffig und hat mir das letzte freie Zimmer aufgetrieben. Es war damals im „Mühlenberger Hof“ in Mühlenberg, Ortsteil von Rheinhausen. Und ein paar Kilometer weiter, auch Linksrheinisch, bin ich hängen geblieben.

In Duisburg habe ich mich ziemlich schnell eingelebt. Die Behördengänge waren nur noch ein Klacks, ich hatte ja Übung.

Die Menschen hier waren umgänglich und die Sprache lag mir sehr. Ich musste mir kein „Hochdeutsch“ mehr abquälen. Ich fand diese Sprache auch lustig und habe sofort einige Wörter in meinen Sprachschatz übernommen, selbstverständlich auch einige nicht zitierfähige Schimpfwörter.

Die Gegend hier war schon ideal. Zu meiner Familie waren es nur noch rd. 400 Kilometer mit dem Auto. Ich wohnte hier in meinem „Dorf“ und Rheinhausen, als kleinere Stadt, entsprach meinem gewohnten Umfeld in Lothringen. Und zum Shopping rüber nach Duisburg in die Großstadt. Und ab und zu auch mal nach Holland.

Französische TV-Sender gab es immer noch nicht. Nicht so schlimm. Schade war halt nur, dass ich meine Muttersprache nicht mehr hörte und nicht regelmäßig sprechen konnte.

Meine Essgewohnheiten haben sich auch etwas gewandelt, bzw. als Franzose behält man, was man kennt und nimmt alles Fremde noch dazu, was einem schmeckt. Es ist also eine Bereicherung des Speiseplans. Aus Hamburg kannte ich schon den leckeren Grünkohl mit Mett-Enden, den Räucher-Aal und das KöPi!

In den ersten Jahren kam meine Tante zu mir auf Besuch. Sie war vollauf begeistert von der längsten Fußgänger-Straße, die sie je gesehen hatte. Nach stundenlangem Schlendern kam natürlich Hunger auf. Und was isst man wohl mitten in Duisburg? Selbstverständlich Curry-Wurst! Meine Tante war vollauf begeistert. Noch heute, mehr als zwanzig Jahre später, schwärmt sie davon.

Bis auf meine weißen Pfirsiche und mein Baguette (die es beide jetzt in jedem Discounter gibt) musste ich also kaum auf etwas verzichten. Was ich sonst noch aus Frankreich brauchte, konnte ich bei meinen Besuchen besorgen.

Vor knapp zehn Jahren bin ich erkrankt. In der ersten Zeit war ich dann nicht in der Lage nach Frankreich zu fahren. Zum Glück waren die Telefon-Gebühren drastisch gesunken, sodass der Kontakt zur Familie kein Problem war.

Das Schicksal nahm seinen Lauf und eines Tages passierte es: Mein Melfor Essig war restlos verbraucht. Es handelt sich um einen milden Honig-Essig, den ich von Kind an gewohnt bin. Große Katastrophe, wie komme ich jetzt an diesen Essig?

In den Geschäften hier gibt es bestimmt zwanzig oder mehr Sorten Essig, aber keinen Melfor. Diesen gibt es nur in Frankreich und in den grenznahen Regionen in Deutschland. Der Lebensmittel-Versand war im Internet auch noch nicht so fortgeschritten. Import war viel zu teuer und umständlich. Was bin ich damals den Menschen in meiner Nähe auf die Nerven gegangen.

Eine Dame aus Duisburg besucht mich in regelmäßigen Abständen. Sie hatte die erlösende Idee. Ihr Mann hatte früher mit dem Schifffahrtsamt zu tun und kannte noch einen Rhein-Schiffer, der in Straßburg immer Station machte. Und so kam dann der Melfor Essig zu mir, Rhein abwärts. So etwas funktioniert nur in Duisburg mit seinem Binnenhafen.

Ich hätte es nie für möglich gehalten, aber Heimweh geht eben doch durch den Magen.

Ein paar Jahre weiter gab es noch immer keinen französischen TV-Sender. Zum Glück hatte sich aber das Internet sehr weit entwickelt und ich konnte wenigstens französische Zeitungen lesen. Und dann kam Facebook. Da hatte ich mich auch angemeldet. Ich wusste nicht genau wofür, das war für mich eher langweilig. Eines Tages bekam ich eine Nachricht von einem jungen Mann. Huch! Der musste sich vertan haben, ich bin ja schon eine „Alte“. Es war der Sohn meiner Jugendfreundin. Sie hatte in jungen Jahren geheiratet und war mit ihrem Mann ins tiefste Frankreich gezogen. Und plötzlich war sie wieder da, meine alte Heimat. Meine Freundin und ich „telefonieren“ wöchentlich über Skype. Durch die vielen Jahre in Deutschland war mein Französisch auf dem Stand von vor über zwanzig Jahren stehen geblieben. Alle neuen Wörter, die z. B. mit PC, Internet, Arbeit allgemein, Wirtschaft zu tun hatten, kannte ich doch gar nicht. Auch die neuen Abkürzungen! Franzosen sind die reinsten Abkürzungs-Weltmeister. Kein Wunder, dass niemand diese Sprache versteht.

Meine Freundin und ihre Familie lachen noch heute über meine lustigen Übersetzungen. Einmal sagte ich ihr, ich müsse zum Arzt für meine Infusionen. Infusion? Arzneimittel auf Pflanzenbasis? Kräuter Tee? Kein Wunder, es heißt ja auch „perfusion“ auf Französisch. Oder ich wollte zum Arzt, um mir ein Rezept zu besorgen. Recette? Wie Back-Rezept? Nein, es heißt „Präskription“.

Durch diesen engen Kontakt sind mittlerweile auch ein paar Deutsche Eigenheiten in Frankreich gelandet. Meine Freundin sagt auch nur noch „Handy“ anstatt „Mobile“. Und sie backt Butterkuchen, der in Frankreich überhaupt nicht bekannt ist. Und auch Mohnstollen. Was war das für ein Akt, bis sie endlich den richtigen Mohn gefunden hatte.

Seit ein oder zwei Jahren gibt es eine Ryanair Flugverbindung zwischen Weeze und Béziers. Letztes Jahr im Frühjahr kam also meine Freundin zu mir. Ein Wiedersehen nach 33 Jahren! Es war, als wären wir nie getrennt gewesen.

Wir haben dann meine „neue Heimat“ besichtigt. Sie kennt zwar auch größere Städte in Frankreich, über das hohe Verkehrsaufkommen war sie schon erstaunt. Und die vielen Autobahnen, nein hier könnte sie kein Auto fahren. Um in die City zu kommen, fuhr ich wie immer durch die Charlotten Straße. Oh lala, was ist das? Ein Eros-Center? Jetzt muss man natürlich wissen, dass Bordelle seit 1946 in Frankreich verboten sind. Der Innenhafen war dafür aber spannend mit seinen tollen modernen Gebäuden neben den alten Speichern.

Jetzt lebe ich hier schon fast 25 Jahre. Ich wurde immer gefragt, ob ich mich eher als Deutsche fühlen würde oder als Französin. Komische Frage. Ich würde sagen beides. Genauer gesagt: Ich bin Lothringerin und Niederrheinerin.

Aber was ist Heimat? Das Wort gibt es gar nicht auf Französisch. Für mich gibt es meine alte Heimat in Lothringen, wo meine engste Familie wohnt, aber auch die virtuelle Heimat, wenn ich mit meiner Jugendfreundin skype. Und dann meine neue Heimat am Niederrhein, wo ich heimisch geworden bin. Aber Heimat ist nicht der Ort oder die Region. Es sind die Menschen, es sind die gemeinsamen Erinnerungen. Es sind auch die Essgewohnheiten und die Sprache mit ihren Besonderheiten.

Seit ein paar Jahren bin ich nun krankheitsbedingt in Rente. Häufig stellt man mir die Frage, ob ich denn nicht zurück nach Frankreich ziehen wolle, in die Nähe meiner Familie. Ein Gedanke ist es wert, aber die Antwort ist ganz klar: nein, was soll ich dort? Ich wohne hier, ich kenne mich hier aus, ich habe hier meine Freunde und Bekannte, meine Nachbarn und für mich extrem wichtig, meine Ärzte. Und ich will auch keine Hügel mehr. Das platte Land gefällt mir.

Ich denke, ich bin hier voll integriert.

Und falls jetzt die Frage aufkommt, warum ich die Deutsche Staatsangehörigkeit nicht beantragt habe. Ich besitze sie schon länger, aber das ist wieder eine andere Geschichte.

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