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Daheim

Etti Ruhöfer

Eine Wohnung in Neudorf! Mit so einem Glücksfall hatte ich nicht mehr gerechnet. Ich war zurückgekehrt an den Ort meiner Kindheit voller Erinnerungen. Fast ist mein Leben ja gelaufen – die Zeit setzt schon zum Endspurt an – verflixte Zeit, setzt zum Endspurt an und schmeißt einen doch gleichzeitig immer wieder zurück in die Vergangenheit. Zum Beispiel wie jetzt: Das neue Heim in der weißen Siedlung, in dem ich den Rest meines Lebens leben will, kenne ich schon von früher – von ganz früher …

Damals gab es noch den ruhigen, wenn auch nicht immer satten Frieden, von dem ich noch ein kleines Zipfelchen erwischt hatte, bevor der Krieg wie eine große Woge meine kindliche Welt überrollte und sie mit Angst und Schrecken erfüllte. Aber dieses Zipfelchen Kindheit war glücklich und unbeschwert gewesen, abgesehen von den vielen Wochen, in denen ich täglich zu dem kleinen weißen Haus in der Siedlung laufen musste, um Essen zu holen. Viele Leute, die dort wohnten, versorgten kinderreiche Familien mit warmen Mahlzeiten und dienten so der Partei und dem Führer des Großdeutschen Reiches, der genau wusste, dass seine Ziele viele Menschenleben fordern würden. Kinderreichtum belohnte er sogar mit dem Mutterkreuz, einer Auszeichnung, die für jede „echte deutsche Frau“ ein Ansporn zum freudigen Gebären sein sollte. Meine Mutter hatte diese Auszeichnung, von der Vater meinte: „Für datt Stück Blech können wir uns nix kaufen“. Aber die warme Mahlzeit war für die hungrigen Mäuler lebensnotwendig. Ich musste sie mit dem täglichen Weg zu der verhassten Siedlung teuer bezahlen.

„Gib acht, wenn du übern Stermuschwech gehst“, sagte Mutter. – Stermuschwech! So sagten alle – zumindest klang es so, und das blieb für mich, bis ich lesen und schreiben konnte.

Der Sternbuschweg also, wie er sich schrieb, war die Hauptverkehrsstraße, wenn er auch ganz beschaulich mitten durch Neudorf verlief. Er trennte die weiße Siedlung von dem Viertel mit dem großen

Etti Ruhöfer

roten Backsteinhaus, in Siedlung von Haus in dem ich geboren und aufgewachsen war – er trennte sie räumlich und vor allem in den Köpfen der Leute. So fühlte ich mich auch immer wie ein Kind von der anderen Seite – von der falschen Seite, das in der weißen Siedlung nicht gern gesehen war (trotz aller Parteifürsorge). Als schwebe eine dicke Faust über meinem Kopf duckte ich mich jedes Mal, wenn die große hageren Frau aus der Tür trat und mich mit ihren strengen Augen ansah. Das Haar der Frau, straff nach hinten gekämmt, war im Nacken zu einem echten deutschen Knoten gewunden. Wie einen Schild trug sie ihre Ergebenheit zum Führer vor sich her, wenn sie, den Arm ausgestreckt, die Nase wie eine Speerspitze geradeaus gerichtet, „Heil Hitler“ sagte. Ich hob sonst gern den Arm zum Hitlergruß, weil ich mich dann so erwachsen fühlte. Aber diesen Gruß zu erwidern, weigerte ich mich. Ohne ein Wort nahm die Frau dann die Tasche mit den Töpfen entgegen und schloss die Haustür. So ausgesperrt wie eine Bettlerin wäre ich am liebsten eine der Ameisen gewesen, die in einer langen Reihe unter der Treppenstufe des Hauseingangs verschwanden.

Dass auch ausgerechnet die Eintöpfe dieser alten Hexe allen zu Hause die Mägen füllen mussten! Aber ich rächte mich, indem ich eine lange spitze Zunge machte, die ich der verhassten Frau in Gedanken wie ein Messer in den Rücken stieß…

Die Demütigungen begannen unaufhörlich an meiner Unbeschwertheit zu nagen – ließen mich klein und unbedeutend fühlen…

Es war ein kalter Februartag, als ich mich mit Paul auf den Weg machte, eine Wohnung zu besichtigen – eine Wohnlage ruhig gelegen, nah am Wald, in der Nähe viele große Seen, den Zoo, den Kaiserberg, und nicht zu vergessen, die Flüsse Rhein und Ruhr, die sich vor langer langer Zeit verbündet hatten und meine geliebte Stadt Duisburg zum größten Binnenhafen der Welt werden ließen. Alles mit der guten Busverbindung gut zu erreichen. Der richtige Platz für unsern Lebensabend.

Es war schon ein eigenartiges Gefühl für mich, als ich nach mehr als einem halben Jahrhundert diesen Weg ging – über den Sternbuschweg, heute die Schlagader des Stadtteils, die Gabrielstraße, den Gabrielsplatz, vorbei an der Gabrielkirche, die sich einem regelrecht in den Weg stellt. Wie eine Schutzmauer scheint sie die Siedlung vor neugierigen Blicken schützen zu wollen. Erst wenn man an ihr vorbei ist, tut sich auch heute noch das Bild einer verträumten Kleinstadt auf, aus deren Mitte ein hoher Schornstein ragt, der der Siedlung den Namen „Einschornsteinsiedlung“ gegeben hat. Früher starrten mir die weißen Fassaden der Häuser beängstigend kalt entgegen. Nun wirkten sie versöhnlicher, hatten freundlichere Farben. Nur der hohe Schornstein, die Zentrale, von wo aus früher die ganze Siedlung beheizt wurde, und das angrenzende Gebäude, früher Waschhaus und Kindergarten, machten einen verwahrlosten Eindruck. Dieser Teil, einst Treffpunkt der Bewohner, hatte ausgedient, als die Siedlung eines Tages von den Stadtwerken mit Wärme beliefert wurde, und jeder seine Wäsche in der eigenen Waschmaschine wusch. Auch der Kindergarten wurde nicht mehr genutzt. Die Kinder waren herangewachsen, aus dem Haus gegangen und hatten die Eltern, die mit der Siedlung verwachsen waren, zurückgelassen…

Vieles in der Siedlung hatte sich verändert. Aus den Lokalen rechts und links des kleinen Platzes, wo die Partei ihre Versammlungen abgehalten hatte, waren kleine Läden geworden. Und so wie alle kleinen Straßen dort immer noch die vertrauten Namen großer Komponisten trugen, hatte auch der Platz sein Kopfsteinpflaster behalten, das in der Wintersonne wie Stahl glänzte. Das Ganze war überdacht vom Geäst ausladender Kastanienbäume, die damals – genau wie ich – jung, zart und ohne ausgeprägte Formen gewesen waren. Es war nicht schwierig, sich vorzustellen, im Sommer unter ihnen auf den Bänken auszuruhen, wenn in den Kronen die Sonne nistet.

Da stand ich doch plötzlich mit Paul vor genau so einem kleinen, damals so verhassten Siedlungshaus. Heftig klopfte mein Herz. Vielleicht kommen mir ja die Namen auf den Schellen bekannt vor. Und wie ich es früher getan hatte, begann ich, sie von oben nach unten zu lesen: Patzke, Hanter, Knittel, Olaske – wie Glasmurmeln kullerte es durch meinen Kopf. Waren es diese Namen? Was hatte der Mann am Telefon gesagt, die Wohnung sei im Erdgeschoss. Da stand – Savier. So könnte die Frau geheißen haben. Es könnte auch dieses Haus sein. Fünfzig Jahre sind eine lange Zeit. Ich rätselte, lief hin und her, und entschloss mich, dieses Haus mit seinen Bewohnern als das Haus zu sehen, das mir als Kind soviel Kummer bereitet hatte. Paul grinste nur – ruhig wie gewohnt – über meinen Eifer. Ihm war jede Wohnung recht, wenn er nur seinen Wald in der Nähe hatte.

„Sollte wirklich niemand von ihnen das Schiff je verlassen haben“, sagte ich mit dem Wissen, dass kaum ein Mieter freiwillig von der Siedlung weggezogen war. „Vielleicht werden wir ja der erste Wechsel in der Mannschaft sein – auf einem einstmals weißen Dampfer und seiner altersgrauen Crew“…

Nun werde ich endlich einen Blick ins Innere des Hauses werfen können, dachte ich. Damals war ich von dem Wunsch besessen gewesen, einmal zu sehen, wie die feinen Leute wohnten. Zentralheizung, ein Waschhaus und Dienstmädchen hätten sie, erzählte man sich. Und die Erwachsenen von der anderen Seite sprachen nur, verständlicherweise ein wenig neidisch, von der „Siedlung der faulen Hausfrauen“.

Der Schreck fuhr uns in die Glieder, als wir die Wohnung betraten. Es war wie ein Schock. Bierdosen und Schnapsflaschen türmten sich neben einer stinkenden Matratze, die auf dem Fußboden lag. Man habe den Sohn der nur noch allein in der Wohnung wohnte abgeholt und in eine Anstalt gebracht, sagte man. Seit dem Weggang seiner Mutter in eine psychiatrische Klinik, wo sie dann auch gestorben sei, wäre er dem Alkohol verfallen gewesen.

Die Decke auf dem Lager lag, wie eben erst beiseite geschoben. Im Wohnzimmerbüfett hinter blinden Scheiben – Porzellanfiguren, Urlaubsandenken und Kristallsachen. An den Wänden Gesichter verschiedenen Alters in braunen Rechtecken und Ovalen. Der zerknitterte braune Ledersessel am Fenster mit der herausragenden Sprungfeder in der Mitte der Sitzfläche ließ in meinem Kopf das liniendurchfurchte Antlitz eines alten Bergbewohners entstehen. In den Räumen war die Gleichgültigkeit der letzten Jahre zu spüren, Gleichgültigkeit Dingen gegenüber, die im Laufe eines Lebens angehäuft, liebevoll gepflegt und für unverzichtbar gehalten worden waren – Requisiten eines vergangenen Lebens. Geblieben sind Schatten, Erinnerungen, Staub – nichts als Gespenster…

Angewidert von all dem Schmutz wollte Paul gleich wieder gehen. „Gegen Schmutz kann man etwas tun“, sagte ich.

Immer wieder schaute ich mich um. Plötzlich schien alles hell, die Wände in Weiß und zartem Gelb, ein in Weiß gefliestes Bad, duftige Gardinen an allen Fenstern. Ein graublauer Teppich bedeckte die Böden. Ich sah das neue Heim schon in strahlender Schönheit. Es wird wunderbar werden. Warum kann der Mann das nicht genauso sehen wie ich? Ging es mir durch den Kopf. In meiner Freude über die Vorstellung, wie die Farbe des Teppichichbodens sich von hellen Möbeln abheben würde, rief ich: „Schööön!“. Paul schüttelte den Kopf. Er konnte meine Äußerungen nicht so recht verstehen.

„Vergiss nicht, hier hast du deinen Wald in der Nähe“, sagte ich eindringlich. Das hatte Paul überzeugt. Damit stand fest, dass wir hier wohnen würden.

Die Gardinen am Fenster waren grau und staubten, als ich sie beiseite schob. Ich sah in einen verwilderten Garten. Eine Schaukel hing matt am Ast eines Baumes, schief – vergessen. Manchmal erbarmte sich ihrer der Wind. Es überraschte mich, welche Empfindungen diese verwaiste Schaukel in mir auslöste. – Wie oft mögen sie, die hier gelebt hatten, vom Sessel aus zu ihr hinübergeschaut haben, ziellos mit den Händen über die Armlehnen streichend, in Erinnerung an ihre Kinder, an Vergangenes…? Ich musste an die große hagere Frau von damals denken, die blind an den Führer, an die Partei und ihre Ziele geglaubt hatte. Wie groß musste ihre Enttäuschung gewesen sein? Vielleicht ist es ja wirklich ihr Platz, den ich und Paul jetzt einnehmen wollen? So ist eben das Leben…

Noch einmal ging ich zum Fenster. Wirklich, der Garten war eine struppige Wüste. Ich nahm mir vor, ihn wieder in Ordnung zu bringen. Eine Bank soll unter dem Apfelbaum stehen und längs der Wege Männertreu, Rittersporn und Margeriten blühen. Mit Pauls Hilfe würde ich dabei nicht rechnen können. Er hasst Gartenarbeit – nur Gartenarbeit? Er sagt doch von sich selbst, dass er ein fauler Hund sei – und ich werde mich hüten, ihm zu widersprechen. Aber wenn er will, kann er.

Zeitgleich mit der neuen Wohnung war Paul in seiner Firma überraschend durch die Sortiermaschine gefallen – Vorruhestand! Ich musste noch ein paar Jahre. So blieb der größte Teil der Renovierungsarbeiten an Paul hängen.

Die Osterglocken im Vorgarten ließen schon ihre zerknitterten Köpfe hängen, als das neue Heim endlich fertig war und wir einziehen konnten. Als Paul dann wie selbstverständlich den Hausmann machte, riss es mich glatt aus den Pantoffeln.

Es war ein Heim, geschaffen für den Rest des Lebens. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, es habe noch keine neue Seele, als wohnten immer noch in ihm die Gespenster, die sich seit fünfzig Jahren dort breitgemacht hatten und die ich erst noch verjagen müsse. Mit der Zeit, so hoffte ich, würde es mir sicher gelingen

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