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Neudorf!

Etti Ruhöfer

Für viele nur ein Ortsname, für Lisa, Heimat, ein Ort voller Kindheitsträume, den sie nach dem Krieg verlassen musste. Ihre Großeltern, so erinnert sie sich, sagten niemals Neudorf, sondern „Op de Heid“. So hatten nämlich, Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die ersten Siedler – von Friedrich dem Großen zu diesem damals noch menschenleeren Flecken geschickt – ihren neuen Heimatort genannt, der dann später den Namen Neudorf bekam. Nun ist Lisa nach einem halben Jahrhundert endlich in ihr geliebtes Neudorf zurückgekehrt – jetzt, wo ihr Leben fast gelaufen ist, denn die Zeit setzt schon zum Endspurt an. Verflixte Zeit, setzt zum Endspurt an und schmeißt einen doch gleichzeitig immer wieder zurück in die Vergangenheit. Zum Beispiel wie jetzt: Das neue Heim in der weißen Siedlung, in dem Lisa mit Paul den Rest ihres Lebens verbringen will, kennt sie schon von früher – von ganz früher… Damals gab es noch den ruhigen, wenn auch nicht immer satten Frieden, von dem sie ein kleines Zipfelchen erwischt hatte, bevor der Krieg wie eine große Woge ihre kindliche Welt überrollte und sie mit Angst und Schrecken erfüllt hatte. Aber dieses Zipfelchen Kindheit war glücklich gewesen und unbeschwert, abgesehen von den vielen Wochen, in denen sie täglich zu dem kleinen weißen Haus in der Siedlung laufen musste, um Essen zu holen. Viele Leute, die dort wohnten, versorgten kinderreiche Familien mit warmen Mahlzeiten und dienten so der Partei und dem Führer des Großdeutschen Reiches, der genau wusste, dass seine Ziele eines Tages viele Menschenleben erfordern würden. Kinderreichtum belohnte er mit dem Mutterkreuz, einer Auszeichnung, die für jede „echte deutsche Frau“ ein Ansporn zum freudigen Gebären sein sollte. Lisas Mutter hatte diese Auszeichnung, von der Vater meinte: „Für datt Stücksken Blech können wir uns nix kaufen“. Aber die warme Mahlzeit war für die hungrigen Mäuler lebensnotwendig. Lisa musste sie mit dem täglichen Gang zu der verhassten Siedlung teuer bezahlen. „Gib acht, wenn du übern Stermuschwech gehst“, sagte die Mutter immer. – Stermuschwech, so sagten alle – zumindest klang es so, und das blieb für Lisa, bis sie lesen und schreiben konnte.

 

Der Sternbuschweg also, wie er sich schrieb, war die Hauptverkehrsstraße, wenn er auch ganz beschaulich mitten durch Neudorf verlief. Er trennte die weiße Siedlung von dem Viertel mit dem großen roten Backsteinhaus, in dem Lisa geboren und aufgewachsen war – er trennte sie räumlich und vor allem in den Köpfen der Leute. So fühlte sich Lisa auch immer wie ein Kind von der anderen – von der falschen Seite, das in der weißen Siedlung nicht gern gesehen war (trotz aller Parteifürsorge). Sie duckte sich jedes Mal, als schwebe eine dicke Faust über ihrem Kopf, wenn die große hagere Frau aus der Tür trat und sie mit ihren strengen Augen ansah. Das Haar der Frau, straff nach hinten gekämmt, war im Nacken zu einem echten deutschen Knoten gewunden. Wie einen Schild trug sie ihre Ergebenheit zum Führer vor sich her, wenn sie, den Arm ausgestreckt und die Nase wie eine Speerspitze geradeaus gerichtet, „Heil Hitler“ sagte. Lisa hob sonst gern den Arm zum Hitlergruß, weil sie sich dann so erwachsen fühlte. Aber diesen Gruß zu erwidern, weigerte sie sich. Ohne ein Wort nahm die Frau dann die Tasche mit den Töpfen entgegen und schloss die Haustür. Ausgesperrt wie eine Bettlerin wäre Lisa am liebsten eine der Ameisen gewesen, die in einer langen Reihe unter der Treppenstufe des Hauseingangs verschwanden. Dass auch ausgerechnet die Eintöpfe dieser alten Hexe allen zu Hause die Mägen füllen mussten! Aber Lisa rächte sich, indem sie eine lange spitze Zunge machte, die sie der verhassten Frau in Gedanken wie ein Messer in den Rücken stieß. Die Demütigungen begannen unaufhörlich an Lisas Unbeschwertheit zu nagen – ließen sie sich klein und unbedeutend fühlen… Es war ein kalter Februartag, als sich Lisa mit Paul auf den Weg nach Neudorf machte, um eine Wohnung zu besichtigen. Ein Platz für den Lebensabend sollte es sein – ruhig, nah am Wald gelegen und mit guten Busverbindungen, denn das Auto sollte weg – es musste weg! Paul hatte etwas gegen andere Autofahrer, die ihm dauernd und überall im Wege waren. Wenn das Auto abgeschafft wäre, würden Lisas Nerven geschont. Paul ist viel besser zu Fuß, und wie sie ihn kennt, führen ihn seine Spaziergänge sowieso meist über die Stadtgrenzen hinaus. Es gibt ja so viele Ausflugsmöglichkeiten: Wald, eine Menge großer Seen, den Zoo, den Kaiserberg und, nicht zu vergessen, Rhein und Ruhr, die sich vor langer langer Zeit verbündet hatten und Lisas geliebte Stadt Duisburg zum größten Binnenhafen der Welt werden ließen. Es war schon ein eigenartiges Gefühl für Lisa, als sie nach mehr als einem halben Jahrhundert diesen Weg ging – über den Sternbuschweg, heute die Schlagader des Stadtteils, die Gabrielstraße, den Gabrielplatz, vorbei an der Gabrielkirche, die sich einem regelrecht in den Weg stellt. Wie eine Schutzmauer scheint sie die Siedlung vor neugierigen Blicken schützen zu wollen. Erst wenn man an ihr vorbei ist, tut sich auch heute noch das Bild einer verträumten Kleinstadt auf, aus deren Mitte ein hoher Schornstein ragt, der der Siedlung den Namen „Einschornsteinsiedlung“ gegeben hat.

Früher starrten die weißen Fassaden der Häuser der kleinen Lisa beängstigend kalt entgegen. Nun, mit ihren freundlichen Farben wirkten sie versöhnlicher, und auf dem ersten Blick sah man ihnen nicht an, dass sie im gleichen Jahr wie Lisa in die Welt gesetzt worden waren. Nur der hohe Schornstein, die Zentrale, von wo aus früher die ganze Siedlung beheizt wurde mit dem angrenzenden Gebäude, früher Waschhaus und Kindergarten, machte einen verwahrlosten Eindruck. Dieser Teil, einst Treffpunkt der Bewohner, hatte ausgedient, als die Siedlung eines Tages von den Stadtwerken mit Wärme beliefert wurde, und jeder seine Wäsche in der eigenen Waschmaschine wusch. Auch der Kindergarten wurde nicht mehr genutzt. Die Kinder waren herangewachsen, aus dem Haus gegangen und hatten die Eltern, die mit der Siedlung verwachsen waren, zurückgelassen… Vieles in der Siedlung hatte sich verändert. Aus den Lokalen rechts und links des kleinen Platzes, wo die Partei ihre Versammlungen abgehalten hatte, waren kleine Läden geworden. Und so wie alle kleinen Straßen dort immer noch die vertrauten Namen großer Komponisten trugen, hatte auch der Platz sein Kopfsteinpflaster behalten, das in der Wintersonne wie Stahl glänzte. Das Ganze war überdacht vom Geäst ausladender Kastanienbäume, die damals – genau wie Lisa – jung, zart, ohne ausgeprägte Formen gewesen waren. Es war nicht schwierig, sich vorzustellen, im Sommer unter ihnen auf den Bänken auszuruhen, wenn in den Kronen die Sonne nistet. Da stand sie doch plötzlich mit Paul vor genau so einem kleinen damals so verhassten Siedlungshaus. Heftig klopfte ihr Herz. Vielleicht kommen ihr ja die Namen auf den Schellen bekannt vor. Wie Lisa es früher getan hatte, begann sie diese von oben nach unten zu lesen: Patzke, Hanter, Knittel, Olaske – wie Glasmurmeln kullerten sie durch ihren Kopf. Waren es die Namen? – Was hatte der Mann am Telefon gesagt, die Wohnung sei im Erdgeschoss? Da stand Savier. So könnte die Frau geheißen haben – oder? War es dieses Haus? Fünfzig Jahre sind eine lange Zeit. Lisa rätselte, lief hin und her. Dann entschloss sie sich, dieses Haus mit seinen Bewohnern als das Haus zu sehen, das ihr als Kind soviel Kummer bereitet hatte. Paul grinste ruhig wie gewohnt über ihren Eifer. Ihm war jede Wohnung recht, wenn er nur seinen Wald in der Nähe hatte. „Sollte wirklich niemand von ihnen das Schiff je verlassen haben?“, sagte Lisa mit dem Wissen, dass kein Mieter freiwillig von der Siedlung jemals weggezogen war. „Vielleicht werden wir ja der erste Wechsel in der Mannschaft sein – auf einem einstmals weißen Dampfer mit seiner altersgrauen Crew“. Nun werde ich auch endlich einen Blick ins Innere des Hauses werfen können, dachte sie. Damals war sie von dem Wunsch besessen gewesen, einmal zu sehen, wie die feinen Leute wohnten. Zentralheizung, ein Waschhaus und Dienstmädchen hätten sie, erzählte man sich. Und die Erwachsenen von der anderen Seite sprachen verständlicherweise ein wenig neidisch nur von der „Siedlung der faulen Hausfrauen“. Der Schreck fuhr Lisa und Paul in die Glieder, als sie die Wohnung betraten. Bierdosen und Schnapsflaschen türmten sich neben einer stinkenden Matratze die auf dem Fußboden lag. Man habe den Sohn, der nur noch allein in der Wohnung wohnte abgeholt und in eine Anstalt gebracht, sagte man. Seit dem Weggang seiner Mutter in eine psychiatrische Klinik, wo sie dann auch gestorben sei, wäre er dem Alkohol verfallen gewesen. – Ob es diese Frau war? ging es Lisa wieder durch den Kopf… Die Decke auf dem Lager am Fußboden lag noch wie eben erst beiseite geschoben. Im Wohnzimmerbüfett hinter blinden Scheiben – Porzellanfiguren, Urlaubsandenken und Kristallsachen. An den Wänden Gesichter verschiedenen Alters in braunen Rechtecken und Ovalen. Der zerknitterte braune Ledersessel am Fenster mit der herausragenden Sprungfeder in der Mitte der Sitzfläche ließ in Lisas Kopf das liniendurchfurchte Antlitz eines alten Bergbewohners entstehen. In den Räumen war die Gleichgültigkeit der letzten Jahre zu spüren – Gleichgültigkeit Dingen gegenüber, die im Laufe eines Lebens angehäuft, liebevoll gepflegt und für unverzichtbar gehalten worden waren – Requisiten eines vergangenen Lebens. Geblieben sind Schatten, Erinnerungen, Staub – nichts als Gespenster… Immer wieder schaute Lisa sich um. Plötzlich schien alles hell, die Wände in Weiß und zartem Gelb, ein in Weiß gefliestes Bad, duftige Gardinen an allen Fenstern. Ein graublauer Teppich bedeckte die Böden. Sie sah ihr neues Heim schon in strahlender Schönheit. Es wird wunderbar werden. Warum kann der Mann das nicht genauso sehen wie ich? dachte sie. In ihrer Freude über die Vorstellung, wie die Farbe des Teppichbodens sich von hellen Möbeln abheben würde, rief sie: „Schööön!“. Paul schüttelte den Kopf. Er konnte ihre Äußerungen nicht so recht verstehen. Die Gardinen am Fenster waren grau und staubten, als Lisa sie beiseite schob. Sie sah in einen verwilderten Garten. Eine Schaukel hing matt am Ast eines Baumes, schief – vergessen.

 

Manchmal erbarmte sich ihrer der Wind. Es überraschte Lisa, welche Empfindungen diese verwaiste Schaukel in ihr auslöste … Wie oft mögen sie, die hier gelebt hatten, vom Sessel aus zu ihr hinübergeschaut haben, ziellos mit den Händen über die Armlehnen streichend in Erinnerung an ihre Kinder, an Vergangenes…? Lisa musste an die große hagere Frau von damals denken, die blind an den Führer, an die Partei und deren Ziele geglaubt hatte. Wie groß musste ihre Enttäuschung gewesen sein? Vielleicht war es ja wirklich ihr Platz, den sie und Paul jetzt einnehmen wollen, ging es Lisa durch den Kopf – aber, so ist eben das Leben… Doch Paul, angewidert von all dem Schmutz, wollte gleich wieder gehen. „Gegen Schmutz kann man etwas tun“, hatte Lisa gesagt. Und denke daran, hier hast du deinen Wald. Das hatte Paul überzeugt. Noch einmal ging sie zum Fenster. Wirklich, der Garten war eine struppige Wüste. Sie nahm sich vor, ihn wieder in Ordnung zu bringen. Eine Bank soll unter dem Apfelbaum stehen und längs der Wege Männertreu, Rittersporn und Margeriten blühen. Mit Pauls Hilfe würde sie dabei nicht rechnen können, er hasst Gartenarbeit – nur Gartenarbeit? Dachte Lisa. Er sagt doch von sich selbst, dass er ein fauler Hund sei – und Lisa wird sich hüten, ihm zu widersprechen. Aber wenn er will, kann er. Denn zeitgleich mit der neuen Wohnung war Paul in seiner Firma überraschend durch die Sortiermaschine gefallen – Vorruhestand! Lisa musste noch ein paar Jahre. So blieb der größte Teil der Renovierung an Paul hängen. Die Osterglocken im Vorgarten ließen schon ihre zerknitterten Köpfe hängen, als das neue Heim endlich fertig war und sie einziehen konnten. Als Paul dann wie selbstverständlich den Hausmann machte, Riss es Lisa glatt aus den Pantoffeln. Es war ein Heim, geschaffen für den Rest des Lebens. Aber Lisa wurde das Gefühl nicht los, es habe noch keine neue Seele, als wohnten immer noch in ihm die Gespenster, die sich seit mehr als sechzig Jahren dort breitgemacht hatten und die sie erst noch verjagen müsse. Mit der Zeit, so hoffte sie, würde es ihr sicher gelingen.

 

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