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Hartz4-Plattform: Offener Brief gegen das Sanktionshungern an Ralph Boes

Lieber Ralph,

Dein öffentlicher Jubel, „endlich nach 2 Jahren Sanktionen bekommen“ zu haben, ist mittlerweile nicht mehr zu ertragen – ganz besonders angesichts der Sorgen, Verzweiflung und Nöte von Familienvätern, Alleinerziehenden Müttern und vielen, vielen anderen durch eben solche Sanktionen, die unsere Bürgerinitiative Hartz4-Plattform täglich erreichen.

Hast Du – in offenbar privilegierter Position als bundesweiter Vortragsreisender – überhaupt eine Ahnung davon, wie sehr schon alleine die Möglichkeit und drohende Gefahr von Sanktionen Menschen in Angst und Hoffnungslosigkeit treibt, weil sie ihre Existenz sowie Familien zerstört und Freunde sich von ihnen abwenden? Offenbar kannst Du es Dir erlauben, jede Arbeit abzulehnen, Leistungskürzung zu kassieren und dennoch uneingeschränkt beispielsweise zu Vortragsorten in der ganzen Republik zu reisen, ohne durch die Reisekosten eingeschränkt zu sein – während andere noch nicht einmal mehr davon träumen können, sich weiter als die Füße tragen von ihrer Wohnung entfernen zu können, weil sie kein Geld für Benzin haben oder kein Auto mehr besitzen, schon gar nicht das Fahrgeld für Bus oder Bahn zusammen bekommen.

Hast Du Dich nicht weit entfernt vom Boden der Tatsachen, wenn Du Menschen aktuell das bedingungslose Grundeinkommensleben vorspielst, während die meisten jetzt einfach nur überleben müssen und in aller Bescheidenheit ganz dringend nur einen menschenwürdigen Arbeitsplatz wollen, um von dem Einkommen ihre Familien ernähren zu können. Du tust so, als wärest Du einer von ihnen und bist doch Lichtjahre von deren Lebenswirklichkeit entfernt.

Und zu Deiner Hungerstreik-Aktion, die ich ausdrücklich nicht unterstütze, nicht zuletzt weil kriegerische Auseinandersetzungen – und dazu zählt der Einsatz eines jeden einzelnen Menschenlebens – am Ende niemals zu friedvolleren gesellschaftlichen Veränderungen oder zu besseren politischen Verhältnissen geführt haben und sicher auch nicht bezüglich des Menschenwürde verletzenden Unfriedens namens Hartz IV mit Sanktionen führen werden.

Verhehlen will ich auch nicht, dass ich wenig glaubwürdige Übereinstimmung in der Sache bei Deinen Aktivitäten erkennen kann. Deshalb denke ich mal laut – in kurzen, möglicherweise unvollständigen Stichworten – was viele denken, nur nicht aussprechen.

Wie kannst Du der finanziellen Existenzbedrohung des Sanktionssystems den Kampf ansagen und gleichzeitig die Armutsindustrie hochloben, die doch Bestandteil dieses Sanktionssystems ist,

– indem Du dem Zwang zu unzumutbarer Arbeit in die Hände spielst, wenn Du an Deinem 16ten Hungertag – nach dem Besuch in einem Sozialkaufhaus in Bremervörde – die Mär von den „begeisterten“ 1€-Jobbern unterstützt,
– oder in einer Veranstaltung Eurer Bürgerinitiative Grundeinkommen am 24. Mai die geschäftstüchtige Gründerin der Berliner Tafel, Sabine Werth, feierst, die offensichtlich gleichzeitig in den Gewässern der Tafelgegner wie auch in denen der Tafelbefürworter nach Anerkennung fischt ? (siehe Video von der selbst ernannten „Trägerin des Ehrenamts-Gens“:http://www.dailymotion.com/video/xiwyvl_mittwoch-vortrag-sabine-werth-grundeinkommensfruhling-2011_news  )

Glaubst Du wirklich, dass es so ganz uneigennützig geschieht,

– wenn jetzt ein Jahr vor der Bundestagswahl die Linken-Vorsitzende, Katja Kipping, Dir öffentliche Unterstützung bekundet,
– während sie 2010 den Kläger im Bundesverfassungsgerichtsverfahren zu Hartz IV in bundestagswahlfreier Zeit vor dem Europäischen Gerichtshof im Regen stehen ließ
– und auch denen zurückliegend die Kalte Schulter zeigte, die sich im Gegensatz zu Dir längst schon auf den langen, beschwerlichen Weg zum Bundesverfassungsgericht gemacht haben?
– Hältst Du es nicht für zynisch, wenn jetzt die Diakonie mit Dir Krokodilstränen  wegen Sanktionen vergießt, während sie sich andererseits seit Beginn von Hartz IV für öffentliche Mittel zum Handlanger von sogenannten Maßnahmen sowie des Vollzuges von Sanktionen machen lässt ? (siehe entlarvender Brief dieses Wohlfahrtsverbandes im letzten Kapitel meines Buches „Ich bin dann mal Hartz IV“)

Ja und wie soll man Deine Versuche verstehen, mit den Jobcenter-Mitarbeitern anzubandeln?

– Die sind doch die willigen Helfer des Sanktionssystems. Ohne ihr Mittun müssten die Jobcenter die Sanktionsmaschine abstellen. Umso unbegreiflicher ist ihr Verhalten auch deshalb, weil mindestens sie nicht sagen können, sie hätten nicht gewusst, was sie tun. Immerhin erleben sie hautnah und tagtäglich die Verzweiflung durch die Sanktionen, die sie vollstrecken.

Ist Dir schließlich überhaupt bewusst, dass Du mit Deiner – sorry – viel zu lauten Lust auf Öffentlichkeit nicht nur Deinen Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht jetzt erst einmal zugeschüttet hast? Und sehr wahrscheinlich wirst Du auch vielen, die sich längst vor Dir auf den Weg dorthin gemacht haben, zahlreiche zusätzliche Hürden aufgebaut haben? Denn

– leider irrst Du, wenn Du meinst: „die erste Runde gegen das Jobcenter ging an mich/UNS“.

Eigentlich hättest Du nämlich gegen die Formfehler-Schutzbehauptung Rechtsmittel einlegen können und müssen, weil diese – wiederum wegen Formfehlern – eigentlich rechtsunwirksam sind. Stattdessen hast den Formfehler abgesegnet, indem Du das Geld auf Deinem Konto willkommen geheißen hast – obschon Du vollmundig erklärt hattest: „sie werden nie in die Lage kommen, mich auszuzahlen.“ Sie haben Dich aber ausgezahlt und Du hast’s angenommen. Dabei geht es doch um viel mehr als um Dich – es geht um millionenfach an Menschen vollstreckte Verwaltungspraxis aus Formfehlern. All diese Menschen bringst Du nun – im Sinne einer von der Politik jahrelang billigend in Kauf genommenen – Diskriminierungs-Öffentlichkeit erneut in den Ruch der faulen, arbeitsunwilligen Sozialschmarotzer.

Sorrry, lieber Ralph: ich bin zutiefst „empört!“

Denn gerade hatte sich die veröffentlichte Meinung einem differenzierteren Blick auf die Hartz IV-Lebenswirklichkeit zugewandt. Da machst Du mit Deinem unbedachten – scheinbar vor allem auf Öffentlichkeit gerichteten – Handeln für Millionen Betroffene alles wieder kaputt und beförderst erneut gedankenlose, pauschale Vorurteile – es sei denn, Du kehrst endlich um und entscheidest Dich zum solidarischen Miteinander und gegen öffentliche Selbstdarstellungs-Gier.

In der Hoffnung auf einen konstruktiv-kritischen Diskurs
grüße ich Dich

Brigitte Vallenthin
für die
Hartz4-Plattform

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