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Tarifkonflikt im öffentlichen Dienst: Was vom Vertragsentwurf der Verhandlungsführer zu halten ist

Es ist kurz nach Mitternacht. Kurzvor Mitternacht traten die Verhandlungsführer der Tarifparteien des öffentlichen Dienstes vor die Presse und verkündeten eine Einigung nach etwa 40-stündiger Verhandlungsdauer. Eine Einigung auf den Entwurf eines Tarifvertrages, dem die Bundestarifkommissionen der Gewerkschaft Verdi und des Deutschen Beamtenbundes jetzt zunächst einmal zustimmen müssen. Die öffentlichen Arbeitergeber hatten erklärt, dass es sich nicht um ein offizielles Angebot handele, bevor die gewerkschaftlichen Kommissionen zustimmen. Elemente eines immer wieder kehrenden Tarifrituals. Verdi-Chef Frank Bsirske habe, so ist zu hören, in der Großen Tarifkommission mächtig zu kämpfen.

 

Zwar sollen die Gehälter der zwei Millionen Beschäftigten in den Kommunen und beim Bund um 6,3 Prozent angehoben werden, womit der Vertragsentwurf ziemlich nah an den von den Gewerkschaften geforderten 6,5 Prozent zu liegen scheint. Doch es macht schon einen Unterschied, ob die Laufzeit des Tarifvertrags ein Jahr beträgt, wie von den Gewerkschaften gefordert, oder zwei Jahre, wie es jetzt im Vertragsentwurf steht. Wichtiger noch: die Warnstreikenden wollten „6,5 Prozent mehr, mindestens aber 200 Euro“. Diese „soziale Komponente“ wäre den unteren Einkommensgruppen zugutegekommen. Von dieser Forderung ist im Entwurf nichts übrig geblieben; der Arbeitgeberseite ist es gelungen, diese Forderung vollständig „wegzuverhandeln“.

 

Der von den Beschäftigten und ihren Gewerkschaften geforderte Mindestanstieg von 200 Euro war der Knackpunkt im Verhandlungsmarathon, der Donnerstag begann und am Freitag fast bis Mitternacht andauerte. An diesem Punkt waren die Verhandlungen festgefahren; es ist davon auszugehen, dass der Durchbruch erst dadurch möglich wurde, dass die Verdi-Delegation die „soziale Komponente“ aufgegeben hatte. Das Ausmaß der vereinbarten Gehaltserhöhung ist der Preis (ohne Anführzeichen), den die Arbeitgeberseite dafür zu zahlen hat und den sie dafür zu zahlen bereit ist.

 

Dieser Deal ist in der bundesdeutschen Tarifgeschichte nicht ohne Beispiel. Immer wieder mal hatten die Gewerkschaften – besonders im öffentlichen Dienst – statt einer proportionalen Tariferhöhung – einen Fixbetrag quer durch alle Einkommensgruppen gefordert oder wie auch dieses Mal ihre Tarifforderung durch eine „soziale Komponente“ für die unteren Gehaltsgruppen ergänzt. Immer wieder sind sie damit gescheitert. So öffnet sich die Einkommensschere mit den Jahren immer weiter; die Gehaltsstruktur spreizt sich mit der Zeit immer mehr. In diesem Punkt lassen die Arbeitgeberverbände überhaupt nicht mit sich reden. Unverkennbar gilt ihnen das Prinzip der proportionalen Lohnentwicklung als unantastbar.

 

Dass der Tarifabschluss allein in Einkommensprozenten zu erfolgen hat, ist ihnen wichtiger – noch wichtiger – als ein paar Millionen mehr oder weniger in seinem Gesamtvolumen. Dafür lassen sich Gründe benennen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Gewerkschaften nicht die Kraft aufbringen können, auf eine „sozialen Komponente“ zu bestehen, weil dafür die Solidarität der höheren und mittleren Einkommensgruppen mit den Geringverdienern nicht stark genug ausgeprägt ist. Die Gewerkschaften könnten eine Eskalation des Arbeitskampfes, wenn sie sich an der Frage der Einkommensstruktur entzündete, nicht erfolgreich durchstehen.

 

Deshalb ist es nicht nur im Interesse des Beamtenbundes, sondern letztlich auch im Interesse von Verdi, dem Vertragsentwurf zuzustimmen. Vermutlich wird es in Kürze, also im Laufe dieser Nacht, so kommen. Die Alternative wäre eine Eskalation dieses Tarifkonflikts mit unabsehbaren Folgen. Gerade auch für Verdi. Verständlicherweise ist der Frust bei Busfahrern und Erzieherinnen hoch, waren doch vor allem sie es, die die beiden wuchtigen Warnstreikwellen getragen hatten und so Zugeständnisse der Arbeitgeber erzwungen haben, wie sie dieses Land seit der Wiedervereinigung nicht mehr gesehen hat. Trotz der Laufzeit von zwei Jahren: die 6,3 Prozent markieren einen Stopp der jahrelangen Reallohnsenkungen.

 

Die Preisentwicklung in den nächsten zwei Jahren wird zeigen, ob dieser Abschluss, wenn er denn zustande kommt, die Realeinkommen nur sichert, oder ob für die öffentlichen Bediensteten nach langer Zeit auch real ein Plus übrig bleibt. Sollten die Verbraucherpreise in zwei Jahren wirklich um sechs Prozent oder mehr höher liegen als heute, dann wird das in erster Linie auf stark ansteigende Benzinpreise zurückzuführen sein. Genaueres dazu lässt sich heute dazu noch nicht sagen. Fest steht aber schon heute, dass die meisten kommunal beschäftigten Geringverdiener entweder gar kein Auto haben und / oder – falls doch – i.d.R. keinen allzu weiten Weg zu ihrer Arbeitsstelle zurücklegen müssen. Die bei Städten und Gemeinden beschäftigten Niedrigverdiener sind meistens keine Pendler.

 

Es sind die Bezieher höherer Einkommen, nicht unbedingt „Besserverdiener“, aber „Gutverdiener“, die ihr Haus fernab im Grünen haben und mit der Blechlawine tagein tagaus zur Arbeitsstelle im Ruhrgebiet (oder einem anderen Ballungszentrum) morgens rein- und nachmittags wieder rausfahren. Die wirklich Armen sind vom starken Anstieg der Spritpreise gar nicht betroffen. Die wirklich Armen sind arbeitslos oder aber auch als miserabel bezahlte Niedrigverdiener in den Stadtverwaltungen tätig. Und selbst wenn sie sich ein kleines Auto leisten können, fahren sie damit nicht furchtbar viel. Der Preisindex ohne Energiekosten entwickelt sich gegenwärtig ausgesprochen moderat, so dass auch für diese Kolleginnen und Kollegen der vorliegende Tarifabschluss eine Realeinkommenssteigerung darstellen dürfte.

 

Wenn er denn zustande kommt. Noch ist er von der Tarifkommission nicht bestätigt. Noch ist die Gefahr eines eskalierenden Arbeitskampfes nicht vom Tisch. „Gefahr“ deshalb, weil eine Ablehnung des Vertragsentwurfs durch Verdi zu einer Niederlage führen würde; denn die Bevölkerung würde gegen einen „großen Streik“ klar Stellung beziehen. Wir leben nicht mehr in den 1970er Jahren. Die ÖTV konnte Brandt besiegen; Verdi wird Merkel nicht zusetzen können. Ein Streik belastet nicht nur die Bevölkerung, sondern immer auch – und zwar am härtesten – die Streikenden selbst. Die Geringverdiener besonders hart. Eine Eskalation des Arbeitskampfes könnte die wahlkämpfende SPD an Rhein und Ruhr am wenigsten gebrauchen. Wie sollte sie sich auch positionieren?

 

Die Chancen des sicher geglaubten rot-grünen Wahlsieges in NRW würden im gleichen Tempo kleiner, in dem die Müllberge größer werden. Doch diese Entwicklung ist nicht sehr wahrscheinlich. Wahrscheinlich ist, dass Sie am Samstagmorgen den Nachrichten entnehmen, dass die Tarifkommission zugestimmt hat, dass also im Grunde alles unter Dach und Fach ist. Die „Gerechtigkeitslücke“ in der Gehaltsstruktur bleibt, Leidtragende sind die Einkommensschwachen. Ihr – unfreiwilliges – Opfer und ihr starkes Engagement in den Warnstreiks hat einen Tarifabschluss möglich gemacht, der in dieser Höhe – seien wir ehrlich! – nicht zu erwarten war. Das Lohnplus ist so hoch, dass sogar sie etwas davon haben dürften.

 

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