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“Es gab Planungslücken auf der Duisburger Loveparade” – Strafrechtler Henning Ernst Müller im Interview

Dr. Henning Ernst Müller Foto: Universität Regensburg

Dr. Henning Ernst Müller Foto: Universität Regensburg

1. Teil des Interviews mit Prof. Dr. Henning Ernst Müller, Lehrstuhl für Strafrecht, Kriminologie, Jugendstrafrecht und Strafvollzug an der Universität Regensburg, bloggt als Experte im juristischen beck-blog (http://community.beck.de/blogs/henning-ernst-mueller)

xn: Herr Prof. Dr. Müller, Ihr Kollege, Herr Prof. Dr. Jörg Kinzig, der an der Juristischen Fakultät in Tübingen lehrt, sagte in einem rp-online-Artikel vom 26.07.2010 (ganze zwei Tage nach der größten Nachkriegskatastrophe in Deutschland verursacht durch menschliches Organisationsverschulden), dass den Verantwortlichen allenfalls Bewährungsstrafen drohen würden und dass er nicht damit rechne, dass irgend jemand dafür in Haft käme. „Dafür“ nicht, sehen Sie das auch so?


Prof. Dr. Henning Ernst Müller:
Die Einschätzung von Herrn Prof. Kinzig ist zutreffend. Bei Fahrlässigkeitsdelikten ist regelmäßig nicht mit einer Freiheitsstrafe von über zwei Jahren zu rechnen. Eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren wird bei Personen, die nicht strafrechtlich vorbelastet sind, regelmäßig zur Bewährung ausgesetzt. Es kann natürlich im Prozess auch eine besondere Verantwortung einzelner festgestellt werden, bei der auch eine höhere Freiheitsstrafe drohen würde, aber dies ist im Moment spekulativ. Das ist eine realistische Einschätzung des Strafmaßes, wie es von einem Gericht unter Abwägung aller Umstände (der schweren Folgen einerseits, aber auch der individuellen Schuld jedes einzelnen daran) voraussichtlich getroffen werden wird. Man muss dazu sagen, dass es schon ein Erfolg wäre, wenn in dieser komplexen Sachlage überhaupt eine Verurteilung herauskommt. Dies ist alles andere als sicher.

xn: Ist es richtig, dass bei den Ermittlungen „nur“ der Tatbestand der fahrlässigen Tötung in Betracht kommt? Dann geht man also auf Bewährung schön nach Hause bzw. zurück an seinen Schreibtisch – ist das so in der Art?


Prof. Dr. Henning Ernst Müller:
Ich kann momentan nicht erkennen, dass jemand, der an der Planung der Loveparade beteiligt war, den Tod oder die Verletzung von Menschen billigend in Kauf genommen, also vorsätzlich gehandelt hätte. Die Vorstellung, eine Freiheitsstrafe auf Bewährung sei quasi ein Freispruch, ist weit verbreitet, aber unrichtig. Tatsächlich ist die Freiheitsstrafe schon eine schwere Sanktion und die Aussetzung einer maximal zweijährigen Freiheitsstrafe zur Bewährung ist im Allgemeinen auch angemessen: In vielen Fällen dient es weder der Besserung der Verurteilten noch der Allgemeinheit, wenn Menschen zur Strafe eingesperrt werden. Dies gilt auch bei aller berechtigten Empörung über den Fall „Loveparade“, die ich durchaus teile.

xn: Ist es wirklich wahr, dass man in Deutschland so glimpflich davon kommt, wenn man 21 junge, tote Menschen und nicht „über“ 500 Verletzte, sondern lt. sämtlicher Duisburger Krankenhausstatistiken, exakt (!) 600 (diese Anzahl Verletzter hielt sich in den Duisburger Kliniken auf, Anm.d.Red.) verletzte, junge und jung gebliebene Menschen auf dem gemeinschaftlichen Gewissen hat?


Prof. Dr. Henning Ernst Müller:
Eine möglichst „hohe Strafe“ ist m.E. nicht die einzig hier zählende Kategorie. Neben den strafrechtlichen Folgen drohen bei Verurteilung auch noch arbeitsrechtliche und disziplinarrechtliche (bei Beamten) sowie zivilrechtliche Folgen, nämlich Schadenersatz einschließlich Schmerzensgeldforderungen der Opfer bzw. der Angehörigen. Das wird insgesamt nicht so „glimpflich“ abgehen. Ich denke auch, dass diejenigen, die Fehler gemacht haben, von den Folgen nicht unberührt bleiben, zumindest dann, wenn ihre Schuld gerichtlich festgestellt wurde. Und schließlich würde es erst einmal eine Genugtuung der Opfer bedeuten, wenn Verantwortliche überhaupt bestraft werden, dies gilt m. E. unabhängig von der konkreten Strafhöhe, in die ja auch viele andere Überlegungen einfließen, nicht nur die Schwere der Folgen.

xn: Voraussetzung dafür muss eine Sorgfaltspflichtverletzung sein, die ursächlich für den Tod von Menschen geworden ist. Genau das ist aber doch passiert, exakt darum handelte es sich, um eine kollektive Sorgfalts- und Fürsorgepflichtsverletzung! Wie bitte ist die Rechtslage dahingehend?


Prof. Dr. Henning Ernst Müller:
Es ist richtig, dass für die Strafbarkeit eine Sorgfaltspflichtverletzung vorausgesetzt wird, neben einigen weiteren Kriterien. Allerdings gibt es im deutschen Strafrecht keine „kollektive“ Verantwortung, sondern nur eine individuelle. Es ist gerade die Schwierigkeit in diesem Fall, einzelnen Personen in der Stadtverwaltung, beim Veranstalter und evtl. auch bei den Sicherheitsbehörden entsprechende Sorgfaltspflichtverletzungen individuell nachzuweisen.

xn: Herr Prof. Dr. Kinzig, der uns leider kein Interview geben kann, sagt weiter „…, dass auch bei tödlichen Autounfällen Unfallverursacher wegen fahrlässiger Tötung in der Regel höchstens zu Bewährungsstrafen verurteilt würden“. Kann und darf man solch einen Vergleich ziehen? Das hier ist aber doch etwas völlig Anderes! In Duisburg wurde gemauschelt, geschmiert, gedreht, vertuscht, gelogen, übersehen, überhört, übergangen, abgewunken und abgesegnet… – es wurden gänzlich illegale Wege gegangen!


Prof. Dr. Henning Ernst Müller:
Auch die fahrlässige Tötung durch Kraftfahrzeuge kann auf einem gravierenden vorzuwerfenden Verhalten beruhen (mit hundert Sachen am Kindergarten vorbei rasen und dabei ein Kind töten) oder auf weniger vorzuwerfendem Tun (etwa eine Unachtsamkeit mit unglücklich schweren Folgen). Deshalb darf auch die Strafhöhe nicht allein an den Folgen gemessen werden, deren Ausmaß ja auch ein Moment des Zufalls beinhaltet. Wenn solche Verhaltensweisen, wie Sie sagen, gegeben waren und aufgeklärt werden können und auch einzelnen Personen vorzuwerfend sind, dann wird dies auch in die Strafhöhe einfließen können. Es muss aber auch ein Kausalzusammenhang zwischen solchen Mauscheleien etc. und den Folgen nachweislich vorliegen – da könnte es schwierig werden.

xn: Ist es eine zentrale Frage, ob man sich den Tunnel, an dessen Ende (Westseite, Anm.d.Red.) Menschenmassen aufeinander prallten, vorher genau angeschaut hatte? Hieße das – wenn es so wäre – einerseits also, dass eine „Genehmigung“ zustande gekommen sein könnte, ohne dass Tunnel (und Rampe) vorher inspiziert worden sind und könnte das andererseits erklären, weshalb Herr Prof. Dr. Michael Schreckenberg behauptet diesen nicht gekannt zu haben (bzw. nicht in sein „Gutachten“ impliziert haben will) und weshalb Herr Dr. Hubert Klüpfel sagt, dass der Tunnel nicht Teil seines beauftragten „Gutachtens“ gewesen sei?


Prof. Dr. Henning Ernst Müller:
Soweit ich weiß, sind im Tunnel keine Menschenmassen aufeinander geprallt. Die Situation, die Sie schildern, ereignete sich auf der Rampe hoch zum Veranstaltungsgelände. Ob einige Experten den Tunnel angeschaut haben oder nicht, ist deshalb zwar als Indiz für ihre Sorgfalt verwertbar, aber aus meiner Sicht nicht die entscheidende Pflichtverletzung. Dass der Eingangsbereich (also Tunnel und Rampe) problematisch war, war den meisten durchaus bewusst. Allerdings meinte man wohl, man könne dieses Problem durch die Eingangsschleusen im Griff behalten, eine fatale Fehleinschätzung.

xn: Doch, am westlichen Tunnelausgang vor und in Höhe des abgebrochenen Schildes sind auch schon massenweise Menschen aufeinander geprallt, was ja auch die darauf folgenden Stürze in diesem Bereich und etwas weiter entfernt in Höhe des Gullys und der Wurzel, worauf notdürftig dieser Bauzaun lag!

Stellt es keine Pflichtverletzung dar, wenn im Vorfeld des Weiteren nicht geprüft wurde, ob das Sauerstoffvolumen darin ausreicht? Man weiß in Duisburg, dass die tiefste Stelle des gesamten Tunnel- bzw. Unterführungssystems genau an dieser Stelle ist (in Höhe des abgebrochenen Verkehrsschildes, Anm.d.Red.). Hier könnte es also zusätzlich zu einer gefährlich-giftigen, stark überhöhten Kohlenmonoxid-Anreicherung gekommen sein!

Wie bitte beurteilen Sie dies?


Prof. Dr. Henning Ernst Müller:
Der Sauerstoffmangel hatte keine Bedeutung, solange die Leute hier ohne Probleme weitergehen konnten. Deshalb mussten solche Stauungen unbedingt vermieden werden. Man dachte – leichtfertig – das wird schon nicht passieren, weil immer nur so viele Leute überhaupt in den Tunnel gelassen werden, wie dort ohne Stau durchkommen. Genau das war die fahrlässige Fehleinschätzung, die den Planungen zugrunde lag. Und bei dem Gegenverkehr, den offenbar niemand richtig beachtete, musste es eben entweder oben an der Rampe oder genau dort zum Stau kommen.

xn: Wollen Sie damit sagen, dass Sauerstoffmangel also möglicher Weise durchaus geherrscht hatte? Wollte man denn Stauungen vermeiden? Ist das durch irgendetwas belegt? Ist das nicht eine Spekulation, meinen zu wissen was gedacht wurde? Ist es zudem nicht etwas vorschnell geurteilt von einer fahrlässigen Fehleinschätzung zu sprechen, wenn doch die nicht erfolgte Expertise dieses Bereiches u.U. als vorsätzlich gewertet werden könnte? And last but not least: Woher wollen Sie wissen, dass dem Gegenverkehr niemand richtig Beachtung geschenkt hatte?


Prof. Dr. Henning Ernst Müller:
Nein, ob dort tatsächlich genug Sauerstoff war, kann ich natürlich aus eigenem Wissen nicht beantworten. Die Sauerstofffrage ist etwa so sinnvoll wie die Frage, wie lang der Bremsweg eines Fahrzeugs bei 230 km/h ist, wenn an der Unfallstelle nur 100 km/h erlaubt waren; warum sollte man irgendwelche Sauerstoffprüfungen vornehmen, wenn dort gar kein Stau entstehen sollte, nicht entstehen durfte? Aus den Abstimmungen im Vorfeld ergibt sich jedenfalls, dass man Stau im Tunnel vermeiden wollte – darum ja der Einsatz des Crowd-Managers, der ggf. eine Schließung der Schleusen veranlassen sollte. Natürlich wurde dies (Tunnel als einziger Ein- und Ausgang) bewusst so geplant. Aber selbst wenn man gewisse Gefahren für bedeutsam hielt, aber meinte, man könne es riskieren, ist dies in Bezug auf den tödlichen Erfolg doch „nur“ fahrlässiges Handeln. Noch ein Beispiel aus dem Verkehrsbereich zur Erläuterung: Wer mit dem PKW 100 statt erlaubter 50 km/h fährt, der überschreitet ja regelmäßig ganz bewusst die Höchstgeschwindigkeit, er weiß meist sogar, dass diese Fahrweise gefährlich ist. Aber wenn er dann jemanden überfährt, geschieht dies regelmäßig doch nur fahrlässig, da er eben nicht diese Folge herbeiführen wollte, er dachte sich nämlich: „Wird schon gutgehen“.

Dass dem Gegenverkehr nicht genügend Beachtung geschenkt wurde, ergibt sich aus einigen der Unterlagen: Einerseits gab es von Lopavent Einschätzungen der zu erwartenden Besucherströme, nach denen über mehrere Stunden jeweils über 100.000 Personen hinein- und hinausgehen würden (Gegenverkehr!). Andererseits wird von TraffGo bei der Analyse der Entleerung des Veranstaltungsgeländes errechnet, dass im Schnitt 60.000 Personen pro Stunde in einer Richtung (!) das Gelände durch den Tunnel verlassen können. Offenbar hat niemand der „Experten“ und Genehmigungsverantwortlichen diese Diskrepanz beachtet oder dies irgendwie kritisch gesehen. Dabei weiß man doch, dass sich bei Gegenverkehr Personenströme stark verlangsamen, ja zum Erliegen kommen können.

Nochmal: Ich halte dies für den Kardinalfehler in der Planung, dass man für diese Menge Menschen auf einem eingezäunten Gelände nur einen einzigen Ein- und Ausgang vorgesehen hat, der die erwarteten Personenströme vorhersehbar gar nicht bewältigen konnte.

Allerdings kennen wir u.U. nur einen Teil der Abstimmungen, die im Vorfeld getroffen wurden, nämlich die offiziellen, von denen auch Lopavent wussten. Wir wissen allerdings nicht, inwieweit inoffizielle Abstimmungen griffen, die auch die zweite Telefonkonferenzschaltung erklären könnte, an der Lopavent nicht beteiligt gewesen war!

Und genauso wenig wissen wir, ob das alles seitens der „Experten“ nicht vielleicht doch kritisch gesehen wurde. Doch um den u.U. kritisch bewerteten Gegenverkehr-Fluss aufzuhalten, gibt es nur eine Lösung, Stau. Auch wenn das erstmal unlogisch anmutet.

xn: Könnte das alles aber erklären, weshalb man Tunnel und Rampe weder in die Expertisen mit hineinnahm (also auch nicht in die des Ordnungsamtes, das ja für dessen „Freigabe“ verantwortlich war), wofür bekanntlich ebenfalls Sicherheits-/Rechtsdezernent und Hauptplaner der Love Parade, Wolfgang Rabe zuständig gewesen war.


Prof. Dr. Henning Ernst Müller:
Aus den mir bekannten Unterlagen ergibt sich, dass tatsächlich für den Eingangsbereich (Tunnel und Rampe) eine Planungslücke bestand. Die eine Seite fühlte sich nur für das Veranstaltungsgelände selbst zuständig, die andere nur für die Straßen bis zu den Eingangsschleusen. Ob dies bewusst geschah, um einen nicht genehmigungsfähigen Bereich auszuklammern, oder unbewusst, weil man in der Kürze der Zeit seine Zuständigkeiten gar nicht mehr richtig überschaute, weiß ich nicht.

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