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Politisch-philosophische Erwägungen zur „Sarrazin-Sache“: Beseitigungsphantasien von rechts und links

 Auch wenn unstrittig ist, dass der Ansatz von Sarrazin nicht weiterhilft, fällt unserem Gastautor die Antwort auf die Frage, ob Thilo Sarrazin aus der SPD ausgeschlossen werden soll, nicht ganz leicht. Politisch-philosophische Erwägungen von Bernhard Becker

Die Veröffentlichung eines Buches ist immer eine riskante Sache: es könnte nämlich von Leuten gelesen werden, die ganz anderer Meinung sind als der Autor, ihm das übel nehmen und ihn und seine Ansichten zum Teufel wünschen. Nicht ohne Grund beschrieb Arno Schmidt einem Nachbarn, der partout ein Buch von ihm lesen wollte, in seiner Widmung die durchaus mögliche Folge: daß dieser vielleicht demnächst an Frau und Kinder die Parole ausgibt: Schmidts werden ab jetzt nicht mehr gegrüßt. Doch weder Wahrheiten noch ethische Normen entstehen, wie man heute wissen könnte, aus dem übereinstimmenden Konsens der Vernünftigen und Anständigen, sondern gerade aus der Erfahrung von Differenz, dem Widerspruch. Darum gilt mittlerweile eher derjenige als vernünftig, der in der Lage ist, den Unterschied zwischen eigener und fremder Wahrnehmung zur Informationsgewinnung zu nutzen. 

Nicht ohne Grund ist die Freiheit des Wortes darum ein hohes Gut: über die Zulässigkeit von Galileis Hypothesen läßt sich nicht abstimmen, auch Giordano Bruno wird nicht mehr verbrannt, sondern höchstens vergessen, und die Zeit der Anklagen wegen Pornographie, Gotteslästerung u.ä. (wie sie Schmidt damals noch erlebte) scheint seit den Fünfzigern längst Geschichte zu sein. Wer allerdings so wie Thilo Sarrazin sich eifrigst bemüht, kein wichtiges Fettnäpfchen auszulassen, kann sicherlich auch heute noch „Hexenjagden“ provozieren und anschließend tapfer die Opferrolle für sich reklamieren – im Unterschied zu früheren Ketzern freilich als Lebender und noch dazu mit lukrativem Buchvertrag. 

Er möchte eine Zukunft abwenden, in der die Deutschen sich selbst abgeschafft hätten, weil seine Enkel von (angeblich lernunfähigen) Muslimen umgeben sind oder gar am Ende selbst welche geworden. Das Ganze serviert mit zahlreichen Rechenbeispielen, die im Stil der alten Eugenik beweisen sollen, daß die Reproduktion der Dummbeutel die der Intelligenzbestien stets bei weitem überträfe, so daß eigentlich nur die reaktionäre Erkenntnis Platons bleibt, seit Atlantis sei alles immer schlechter geworden. Etwas schlichter betrachtet entspricht es also entweder dem Geschwätz verbitterter alter Männer oder aber jenem neuen Trend des Hamburger Schulkampfs: mich interessiert nur, was ausschließlich für meine Familie und für mein Kind das Beste ist – und machen es die Ausländer in ihren Clans nicht genauso? 

In der Welt, in der ich lebe, kann ich allerdings nicht einmal darüber befinden, ob ich überhaupt Enkel habe, und seit ihrem 14. Lebensjahr ist meine Tochter religionsmündig. Der Wunsch des Normalbürgers Sarrazin, alle Kinder des Landes sollten ihm möglichst ähnlich sein, klingt zwar erst mal so unschuldig wie der des biblischen Abraham, seine Nachkommen mögen so zahlreich sein wie die Sterne am Himmel. Doch wenn letzteres bekanntlich den Nazis als Streben nach unheilvoller jüdischer Weltherrschaft galt, sollte man vielleicht nicht mehr so naiv die eigene Welt als selbstverständlich richtig ansehen und die der Fremden als nur schlecht. Das führe, meint Sloterdijk, zu einer „Ungeduld, die beseitigen möchte, was dem Begehren der Einzelnen … und dem langen Marsch der vorgeblich höherstufigen Subjektivitäten zur Weltvernunftherrschaft“ nicht eingeordnet werden kann. Der Andere, wußte schon Sartre, ist erst einmal mein Feind, und sogar Kantianer neigen oft dazu, das transzendentale Subjekt mit ihrem eigenen Ich zu verwechseln: wo fremdes nicht-Ich ist, soll (mein) vernünftiges Ich werden. Hier denkt jeder Schriftgelehrte, die Welt sei in erster Linie allein für ihn gemacht: ein verständlicher Irrtum, wenn man anstelle einer konsistenten Gesellschaftstheorie die Rechte des Individuums als Grundlage wählt. 

Die Zeiten einer Theorie, die alles nach der Logik eines einzelnen Bewußtseins sortiert, sind zwar längst vorbei. Doch der Wunsch nach definitiver Erlösung von „entfernungswürdigen Hindernissen“ hat Tradition: in der Weimarer Republik galt die Liquidierung des „Systems“ rechts wie links als Heilsbedingung, so Sloterdijk, und auch der Kapitalismus soll ja nach wie vor abgeschafft werden. Zwar zahlt jeder von uns vermutlich in ein halbes Dutzend Versicherungen ein, die nur darum so günstig sein können, weil sie irgendwo unerkannt als Heuschrecke und Finanzinvestor herumaasen: doch böse und gierig sind immer die anderen. Solche eschatologische „Beseitigungsphantasien“ sah Sloterdijk in seiner Freiburger Rede 1999 darum auch nicht in Sarrazins Buch, sondern gerade bei der sich als links verstehenden Habermasschen Kommunikationstheorie, „sofern in dieser zwischen der Lebenswelt und den sie belagernden Systemen fast wie zwischen unschuldig und schuldig oder heilvoll und unheilvoll unterschieden wird.“ Alles, was zur Ausbeutung führt oder nicht-idealen Gesprächssituationen zuwiderläuft, muß weg – nur wie das geschehen soll, ohne dabei auch reale Menschen zu treffen, bleibt offen: vielleicht erinnert sich noch jemand an den makabren Sketch der Drei Tornados: „Genscher im Umerziehungslager“? 

Sarrazins „Exterminismus“, könnte man sagen, liegt somit durchaus in jener radikalen Tradition bürgerlicher Aufklärung, die auf vernünftige Weise alles besser machen wollte, indem sie das Schlechte ausmerzt. Darum gehörten erst die Aristokraten an die Laterne und am Ende die Arbeitsscheuen und Unbrauchbaren ins Lager. Denn es seien halt immer wieder die Menschen, so Enzensberger, mit denen „einfach kein Staat zu machen“ sei, und darum ertönt bis heute der Wunsch, Einzelne oder ganze Völker als „Auskristallisierungen des Widersacherischen“ auszuschließen. Dieses Denken trieb Wolfgang Neuss einmal ironisch auf die Spitze, als er die Einführung der Todesstrafe für eben jene vorschlug, die sie einführen wollen. Und so ist es nur konsequent, wenn man nun wiederum Sarrazin, den polemischen Ausgrenzer, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln öffentlicher Moral ausgrenzen will. Hier sind die üblichen Exterministen dann sozusagen unter sich und bescheinigen sich gegenseitig im Interesse einer besseren Zukunft, so etwas wie der andere hätte in öffentlichen Diskursen nichts verloren. 

Denn auch heute noch darf man von der Beseitigung des fremden Anderen träumen, jedenfalls dann, wenn es Rassisten, Kinderschänder oder Terroristen betrifft – und nicht etwa Juden, Feldhamster oder intellektuelle „Querdenker“. In unserer Vergangenheit mag diese Hierarchie zuweilen etwas anders gelautet haben, doch wer auf der aktuellen in- oder out-Liste steht, wird wie zu Kaisers Zeiten in wechselseitiger Beobachtung von Regierungssicht und den Meinungen der als wirklich seriös geltenden Presse festgelegt: ansonsten hätten nämlich die Einmischungen des Bundespräsidenten, wie er sich die „unabhängige“ Entscheidung der Bundesbank vorstelle, ein Skandal sein müssen. Zwar spielt dabei auch das Grundgesetz ab und zu eine Rolle: allerdings meist nur dann, wenn man es dem Gegner um die Ohren hauen kann – und nicht etwa, wenn es um die Verteidigung seiner selbstverständlichen Bürgerrechte geht: z.B. darum, sich in Wort und Schrift frei zu äußern, auch und gerade dann, wenn es die Ansichten hochmoralisch aufschäumen läßt oder sachlich völlig daneben ist. Doch ob Sarrazin nun ein kritischer Geist oder bloß ein alter Querulant ist, kann ich auch ohne die Nachhilfe dieser Vormünder beurteilen. 

Denn die Öffentlichkeit (so habe ich es jedenfalls 68 gelernt) ist keine „gute Stube“, die nur den anerkannt Guten im Lande gehöre und darum allein unter sich ausmachen könnten, wer hier reindarf und wer nicht. Ich kann mich noch an die Zeiten erinnern, als die Stones zwar nicht in der Oetker-Halle spielen konnten, die NPD aber problemlos städtische Säle anmieten durfte. Dennoch ist Medienpräsenz für Normalbürger wie Du und ich heute eine geschlossene Veranstaltung, in der der Weg vom Nachrichten- zum Regierungssprecher oder vom Politiker zum Fernsehintendanten oft recht kurz ist, alle im selben Flugzeug zu wichtigsten Konferenzen fahren und der eine den anderen mit internen Kenntnissen in Schach oder durch positive Erwähnung bei Laune hält. Aus Gründen, die im Nachhinein rational kaum nachvollziehbar (und eher durch Girards Theorie vom reinigenden Opfer zu erklären) sind, wird uns von Jenninger bis Köhler bisweilen einer der ihren als nicht mehr tragbar erklärt: doch es sind und bleiben Verteilungskämpfe einer tonangebenden Minderheit unter erschwerten demokratischen Bedingungen, bei denen wir zuschauen, applaudieren – und manchmal sogar die Daumen senken dürfen.

 Bei diesem Spiel ist Sarrazin also völlig zu Recht rausgeflogen und ab jetzt nur noch einfaches Parteimitglied. Es mag interne Zwänge geben, warum das so ist; als denkender Mensch, Christ und Sozialdemokrat jedoch verweigere ich mich weiteren öffentlichen Steinigungen: „Die Leute wollen doch nur wissen, wer die Guten und wer die Bösen sind“, wurde Luhmann einst von einem Wahlkampfmanager belehrt, „und das sagen wir ihnen“. Doch die Mobilisierung moralischer Erregung von oben ist ein Mittel fundamentalistischer Diktaturen wie z.B. im Iran, und die tatsächliche Überlegenheit des Westens, so Obama zum 11.9., zeige sich gerade darin, es dem Gegner nicht mit gleicher Münze heimzuzahlen. 

An seinen eigenen Maßstäben gemessen spräche somit zwar nichts dagegen, Sarrazin auch aus der SPD auszuschließen: wer nach wie vor mit Carl Schmitt glaubt, die wichtigste politische Unterscheidung sei die zwischen Freund und Feind, hat es eigentlich nicht besser verdient. Wenn allerdings Klaus Wowereit seinen Rauswurf im Fernsehen explizit damit begründet, diese Partei stehe dafür, daß niemand ausgrenzt werden soll, bekommt er vermutlich nicht nur ein paar logische Probleme: denn den Posten, den Sarrazin seiner Parteizugehörigkeit verdankt, ist er längst los, auch hat er nicht wie Clement zur Wahl einer anderen Partei aufgerufen – und die Folgen wären nicht auszudenken, wenn jeder, der ein dummes Buch geschrieben hat, aus seiner Kirche, Partei oder sonstigem Verein ausgeschlossen werden müßte. Es reichte darum völlig aus, ihn einfach nicht mehr zu grüßen oder in ein Amt zu wählen, falls er mit seinen Rechenkünsten sich auf der nächsten OV-Sitzung als Kassenprüfer bewerben sollte. 

Nachdenklich könnte zudem der etwas scheinheilige Appell eines durchaus intelligenten CDU-Politikers wie Wolfgang Bosbach machen, eine Volkspartei wie die SPD müsse so jemanden wie Sarrazin einfach „aushalten“. Denn vielleicht hätte sein Verein bei einer Parteineugründung rechts von ihrer staatstragenden „Mitte“ ja tatsächlich einiges mehr zu befürchten. Aber auch das bliebe angesichts zahlreicher Probleme im Bereich der Integration, die gerade auch viele SPD-Stammwähler betreffen, noch die Frage. Zwar ist für mich unstrittig, daß der Ansatz von Sarrazin nicht weiterhilft: das Vergangene ist nicht mehr zu ändern und Zukünftiges nur unter der Bedingung von Freiheit, Gleichheit und Solidarität aller Mitbürger. Doch weil dank jahrelanger Untätigkeit und knapper kommunaler Kassen hier niemand allzu viele erfolgreiche Antworten vorweisen könnte, die solche Wähler vom Besseren überzeugte, bleibt diese Möglichkeit auch für die SPD riskant – und nur auf das Predigen von Werten bzw. das Reinhaltsgebot der edlen & richtigen Gesinnung zu setzen, sollte sie besser den Grünen und Linken überlassen.

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