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Deutsches Theater – Gaucks Vorstellungen von Freiheit und Demokratie

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Zur Rede Joachim Gaucks im Deutschen Theater am 22. Juni 2010 in Berlin erhielten wir eine kritische Analyse von Bert Steffens.
Steffens ist freier Philosoph und lebt in Andernach.

“Das war alles Theater…“, so bewertete 2002 Peter Müller, Ministerpräsident des Saarlandes, eine inszenierte Empörung seiner Kollegen. Auch in Berlin hätte sich der Aufmerksame gewarnt fühlen können. Immerhin fand das Einmannstück  in einem Theater statt.

Gauck wusste, was die Zuhörer von ihm erwarteten – Worte, die ans Herz gehen, Worte aus seinen Erinnerungen und Wünschen, Worte eines guten und mutigen Deutschen, der sich als evangelischer Theologe und Pfarrer der DDR-Staatsgewalt entgegengestellt hat. Worte, die bestätigen, was die Zuhörer ohnehin wissen, dass für die geplagte deutsche Seele, die ihr Vertrauen in Politik und Politiker gänzlich verloren hat, es nur einen Bundespräsidenten geben kann: Joachim Gauck! Verdrängt wird die offensichtliche Tatsache, dass Gauck der Kandidat von zwei Parteien ist. Deren Größen zollten kräftig Beifall und konnten dabei ihre Hoffnung pflegen, dem politischen Gegner Probleme zu bereiten, die weit über die Wahl ihres Kandidaten hinausgehen soll – wenn er denn gewählt wird. Sehr praktisch und überhaupt: Man kann sich gegenseitig zum jeweils eigenen politischen Vorteil benutzen – Gauck einerseits und SPD und Grüne andererseits.

Wahlkampf für den Kandidaten? Ach was, gegen solch schnöde Verdächtigungen wehrte sich der Kandidat mit Nachdruck schon vor seiner Rede.

Wer fragt da schon ernstlich nach wirklicher Eignung des Kandidaten? Aber was heißt hier überhaupt „Eignung“? Gauck ist bekannt und kann reden – das ist Eignung genug! Bei solcher Eignung will sich kein Mensch an jene große Menge befähigter Redner der Jetztzeit und der Vergangenheit erinnern, die besser ihren Mund gehalten hätten. Warum? Weil es nicht auf die Eloquenz, nicht auf den Wortschatz und nicht auf das Äußere des Auftritts eines Redners ankommt, sondern nur auf den Inhalt seiner Rede und den Zweck, den er damit verfolgt.

Aber wer will schon solches hören, wer will an seinem Idol gekratzt sehen. Man verhält sich ähnlich einer Menge von Teenagern, die ihrem Angebeteten kritiklos, sich ganz ihren Gefühlen hingebend, zujubeln. Dabei kann doch jedermann erkennen: Läge es an der Redebegabung politischen Redner, gleich welcher Partei und gleich aus welchem Land, dann könnten wir es – scherzhaft ausgedrückt – vor lauter Wohlstand, Frieden und demokratischen Verhältnissen kaum noch aushalten. Das aber ist ganz offensichtlich nicht der Fall, auch wenn Gauck – nicht nur am Ende seiner Rede – Vergleichbares suggerieren will.

Gauck weiß, welche Reizworte und -begriffe besonders gut ankommen, weil sie positive Vorstellungen bei den erwartungshungrigen, ihm ohnehin zugeneigten Zuhörern hervorrufen, Worte und Begriffe, die sich bereits vor der Rede in deren „Seelen eingelagert“ haben: Sechsundvierzig Mal springen sie dem erwartungsvollen Zuhörer entgegen, diese vier Buchstaben FREI – beispielsweise als „Freiheit“, „Freiheitswillen“, „Freiheitsliebe, „Freiheitssturm“, „Befreiung“ oder in anderer Weise eingesetzt. Gauck hätte als Texter in einer Werbeagentur eine Chance – nur, was wäre das schon gegen das Amt eines Bundespräsidenten?

Und so fehlte es auch nicht an Namen und Begriffen, die auch und insbesondere in deutschen Ohren einen besonderen Klang von Freiheit, Mut, Widerstand und manchmal auch von Intellekt haben, Namen und Begriffe, die sich mit dem Erinnerungsbild des Redners verbinden sollen (in der Reihenfolge von Gaucks Rede): Thomas Mann, Heinrich Heine, Friedrich Schiller, Wolf Biermann, Sarah Kirsch, Martin Luther King, Alexander Solschenizyn, Andrej Sacharow, Vaclav Havel und auch der freiheitsliebende, der ehedem die Polen unterstützende polnische Papst, wie auch Franklin Roosevelt bleiben nicht unerwähnt. Es fehlt eigentlich nur John F. Kennedy und sein „Ich bin ein Berliner“.

So wie Gauck Schlüsselbegriffe und Namen wirkungsvoll einzusetzen und unterschwellig mit seiner Person zu verbinden weiß, fehlt es auch nicht an bekannten Sprüchen. So hörten seine Verehrer den bekanten Titel eines um 1800 entstandenen Volksliedes „Die Gedanken sind frei“. Nein – „Am Brunnen vor dem Tore“ wurde überraschender Weise nicht benutzt aber der Titel eines amerikanischen Folk Songs von 1940 „This ist My Country“ fand seinen Platz. Und dann die Worte eines – wenn man so will – Berufskollegen, des Baptistenpfarrers Martin Luther King, jenes amerikanischen Menschenrechtlers, der sich als Farbiger nicht weiter von den Weißen unterdrücken lassen wollte; einer der Mut bewies und seine Anhänger auf die Straßen Amerikas führte und eine Rede hielt, die den berühmt gewordenen Ausruf enthielt: „I have a dream!“. Deutschlands Martin Luther King als Bundespräsident – welche ein Gedanke! Geschickt greift Gauck die Metapher „Traum“ am Ende seiner Rede auf. Gauck: „Ich träume von einem Land…“. Und natürlich durfte dann auch Obamas „Yes, we can!“ in Verbindung mit „Wir sind das Volk!“ nicht fehlen.

Aber auch Bilder der Bibel tauchen auf, ganz wie es sich für einen ordinierten evangelischen Pfarrer gehört. Vom „Garten Eden“ und von „den aus dem Paradies Vertriebenen“ ist die Rede.
Manche der Zuhörer brachen in Tränen aus.
Perfekt!

Was aber verriet Gauck seinen Zuhörern über den Inhalt des Begriffs „Freiheit“? Nichts konkretes. Ein analytischer Geist war diesbezüglich nicht zu erkennen. Freiheit? Für Gauck ist Freiheit kein Rechtsbegriff, sondern Gefühl. Er gebraucht den Begriff „Freiheit“ wie in Schlagertexten der Begriff „Liebe“ benutzt wird. Dort wird auch nicht nach deren Inhalt und Ursache gefragt – man gibt sich einfach einer schwärmerischen Sehnsucht hin. So hat auch Gauck das, was Freiheit ausmacht und was dessen Ursache ist, nicht dargelegt. Er arbeitet einen diffusen Begriff von „Freiheit“ an dem ab, was, seiner Darstellung nach, er und andere erlitten haben. In der Nachkriegszeit lernten – so Gauck – seine Großmutter und Mutter das Fürchten vor dem „da draußen“. Ich erlaube mir hier – nur zur beispielhaften Erinnerung an Millionen andere Schicksale – einzuflechten, dass meine Großmütter, Großväter und meine Mutter nicht lange nach 1933 das Fürchten lernten, erst Recht mein Vater als Soldat an der Front, von der er teilamputiert und traumatisiert zurückkehrte. Er konnte nach dem Erleben des grausamen, menschenverachtenden Krieges nur noch hilflos und verbittert von den „Lumpen und Verbrechern“ reden. Den Begriff „posttraumatisches Belastungssyndrom“ gab es in den Jahren nach 1945 noch nicht. Heute wird gerne übersehen: Für ein „posttraumatisches Belastungssyndrom“ bedarf es des Krieges nicht. Ein Bürger kann solches auch dann erleiden, wenn er in einem Staate leben muss, der nur scheinbar eine demokratische Ordnung hat und in dem Organgewalten die Gesetze zu oft verletzten, sei es durch Missachtung oder Auslegung zum eigenen Vorteil.

Gauck benutzt den Buchtitel des deutsch-amerikanischen Psychologen Erich Fromm „Furcht vor der Freiheit“ (1941 „Escape of Freedom“). Gauck – Fromm nicht minder – hat nie verstanden, dass der Mensch – auch als „Bewohner des Ostens“, wie Gauck formuliert – keine „Furcht vor der Freiheit“, sondern Furcht vor dem Unbekannten hat: Der Mensch kennt zu oft nicht das, was Freiheit bedeutet oder nicht bedeutet, weil es ihm nicht von Kind an gelehrt, vorgelebt und das Thema „Freiheit“ nicht immer und immer wieder in der Gesellschaft thematisiert wird.

Wenn Gauck von der „Freiheit von etwas“ und einer „Freiheit zu etwas“ redet, dann zeigt dies: Er hat nie begriffen – jedenfalls kann ich solches seinen mir bekannten Reden nicht entnehmen –, dass in der Werteordnung des Menschen nicht „Freiheit“, sondern erstrangig Selbstbestimmtheit und damit auch Selbstverantwortung steht. Selbstbestimmtheit kann nicht beseitigt und nicht verliehen, wohl aber verletzt werden. An Stelle des Begriffs „Selbstbestimmtheit“ kann man auch den noch immer rechtsunbestimmten Begriff „Menschenwürde“ des Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz setzen. Wird die Selbstbestimmtheit des Menschen nicht durch Gewalt, Abhängigkeit, Ausbeutung und Verdummung verletzt, kann er sich also aus seiner Selbstbestimmtheit heraus selbst gestalten, dann ist er auch frei. Aber: Freiheit allein ermöglicht dem Menschen zunächst nur, dass er all das zu tun vermag, was ihm innerhalb der Grenzen seiner Spezies möglich ist. Dies kann für die Menschengemeinschaft Vorteilhaftes oder auch Grausames sein. All diese Tun war und ist „menschlich“, weil es für den Menschen machbar war oder noch machbar sein wird. Erst das Erkennen der Notwendigkeit selbst geschaffener Schranken seines Handelns, schafft eine Freiheit in der Menschengemeinschaft, mit der alle leben können, wenn und nur wenn diese Schranken, die wir Gesetze nennen, auf demokratische Weise errichtet wurden. Dieses Wissen konnte und kann der Mensch immer wieder mittels seiner Erkenntnisfähigkeit, dem wesentlichen kennzeichnenden Merkmal seiner Spezies erfahren.

Das Wissen um die Selbstbestimmtheit jedes Menschen erklärt auch die von Gauck erwähnte Metapher vom „Apfel im Garten Eden“. Als – so die Bibel – Adam und Eva vom „Baum der Erkenntnis“ kosteten, landeten diese nicht, wie Gauck ausführt, „unversehens im Gefilde der Arbeit und der Sorgen“, denn auch die frühen Menschen hatten wohl selbst für Nahrung, Kleidung und Behausung sorgen müssen. Die Metapher stellt den Versuch dar zu beschreiben, dass die Menschen ihre Erkenntnisfähigkeit erlangten und damit auch ihre Selbstbestimmtheit erkennen konnten. Damit wurde ihnen die Tatsache bewusst, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen konnten und auch mussten. Sie hatten damit ihre Freiheit und Selbstverantwortung entdeckt.

Solche einfachen Zusammenhänge hört man vom Bundespräsidentschaftskandidaten Gauck nicht. Das erklärt auch, warum Gauck nicht erkennen will, welche Verletzung der Selbstbestimmtheit der Mehrheit der Bürger Afghanistans und auch der Mehrheit der Bürger Deutschlands durch eine deutsche “Parlamentsarmee“ angetan wird. Die Mehrheit der Bürger ist, wie das Grundgesetz, gegen den Afghanistankrieg. Gauck hat nicht begriffen, dass es keines Menschen Recht ist, einem anderen das aufzuzwingen, was er für „Glück“ und „Recht“ hält. Hilfe kann zwar angeboten und gegeben werden. Hilfe zur Selbsthilfe mit Gewalt aus Deutschland kombiniert – das geht nicht, weil dies die Selbstbestimmtheit des Mitmenschen verletzt. Hat Gauck sich nie gefragt, was das für ein Staat ist, in dem – aus gutem Grund – Folter verboten, aber Morden im Ausland erlaubt ist, weit entfernt von jedem Selbstverteidigungsargument.

Nie wieder Krieg! – mit diesen Aufschrei sind Millionen von Menschen, auch der Autor dieses Beitrages, nach dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen und es brannte sich in ihre Erinnerung als Verpflichtung ein.

Und Gauck? Tage vor seiner Rede befragt, wie er zum mörderischen, grundgesetzwidrigen Kriegseinsatz in Afghanistan stehe, antwortete mit den haarsträubenden Sätzen „Ich kann ertragen, dass wir dort sind.“

Sicher – Gauck kann’s zu Hause ertragen. Sein Leben ist durch Kriegshandlungen nicht gefährdet. Aber er hält es dennoch „nicht für besonders erwachsen“ die „Solidargemeinschaft der Kämpfenden“ zu verlassen.

Dass Krieg, allein aus der Selbstbestimmtheit aller Menschen, nur im Verteidigungsfalle vertretbar ist, solches hört man vom Pfarrer Gauck, einem, der das Christsein zum Gegenstand seines Berufs gemacht hat, nicht. Dabei weiß auch er: Es gibt keinen „gerechten Krieg“ und selbst der Verteidigungskrieg zwingt den ehedem Gerechten in schreckliche Schuld. Und gerade diese Tatsache berechtigt vom Wahnsinn des Krieges zu sprechen. Wenn Gauck auch anderes in seiner Rede behauptet: Diesen Wahnsinn zu erkennen, war ihm und anderen auch in der DDR möglich. Auch dort hatte er die „Freiheit des Denkens“, auch dort konnte er diese „lernen und einüben“. Warum also diese larmoyante Selbstbemitleidung?

Was anders kann man im Streit zum Thema „Krieg“ einem evangelischen Pfarrer berechtigter entgegenhalten als die Bibel? Worte der Bibel, wie “…denn alle, die zum Schwerte greifen, werden durch das Schwert umkommen.”(Matthäus 26,52) oder auch “Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg.” (Jesaja 2,4) waren von Gauck nicht zu vernehmen. Man fragt sich unwillkürlich: Was hat einst der ordinierte Hirte Gauck seinen Schäfchen gepredigt? Hat er nicht, nach seiner Überzeugung, das „Wort Gottes“ verkündet und hat er nie von der Heuchelei aus Matthäus, Kapitel 15, Vers 7 – 11 gesprochen?

Gauck kritisiert in seiner Rede den Afghanistan-Einsatz der „Parlamentsarmee“ nicht – sind doch die beiden Parteien, die ihn ins höchste Staatsamt bringen wollen, selbst für deren Einsatz mitverantwortlich. Und so stellt sich die Frage nach der Unabhängigkeit und einer selbstverschuldeten Unfreiheit Gaucks: Könnte ein Bundespräsident Gauck gegenüber den ihn fördernden Parteien überhaupt unabhängig agieren und so frei von deren Erwartungen sein? Der Autor bezweifelt das ausdrücklich.

Am liebsten, so scheint es, hätte Gauck über Afghanistan geschwiegen. So ist Afghanistan auch nur einmal kurz Gegenstand seiner Rede im Deutschen Theater. Gauck: „Solange deutsche Soldaten […] dort eingesetzt werden und nicht aus deutschem Übermut, der einst Truppen in Bewegung setzte, um Länder zu erobern oder Ressourcen auszubeuten, kann ich einen derartigen Einsatz nicht verurteilen.“ Da war Horst Köhler doch ehrlicher. Der hatte klar zum Ausdruck gebracht, was der Zweck des Afghanistaneinsatzes ist: Machterweiterung mittels irriger Herrenmenschenideen. Gauck weiter: „Ich fühle mit, wenn ich die Trauer der Mütter der Kriegsopfer sehe. Aber nicht Verantwortungslosigkeit hat ihre Söhne geschickt, sondern aus Verantwortung wurden sie geschickt und aus Verantwortungsbereitschaft sind sie gegangen.“

Gauck fühlt also mit. Bei solcher Art Gerede muss immer wieder die gleiche Frage gestellt werden: Haben sich die „Verantwortungsträger“ auch selbst oder ihre Kinder in einen sinnlosen Kriegseinsatz „geschickt“ oder bleiben sie eigens aus dem Grunde zu Hause, die heimkehrenden Toten in „zentralen Trauerfeiern“ beweinen zu können? Und – nachdem Gauck schon aus Altersgründen als Soldat nicht taugt: Ist eines seiner Kinder Soldat in Afghanistan? Das ist nicht zu hoffen, denn jeder Deutsche, der dort als Soldat weilt, ist einer zuviel.

War Joachim Gauck in seiner Rede schon nicht in der Lage zu vermitteln, was Freiheit und deren Ursache ist, so konnte er zwangsläufig auch nicht darlegen, was Demokratie, deren Ursache und Rechtfertigung ist. So erwähnte Gauck kein einziges Mal den HAUPTSATZ DER DEMOKRATIE aus Artikel 20 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“

Demokratie ist keine nette “Gutmenschen”-Veranstaltung mit Trallalla, pastoralen Reden, Händchenfassen, Zapfenstreich und Nationalhymne (man höre ergänzend hierzu auch: Gauck beim DLF am 13.06.2010 „Denk ich an Deutschland“). Im mehrfachen Sinne falsch ist es zu behaupten, Demokratie sei „…keine ausschließlich rationale Veranstaltung.“ Richtig ist: Demokratie ist überhaupt keine „Veranstaltung“ und – beachtet man den HAUPTSATZ DER DEMOKRATIE – eine zudem überaus rational durchdachte Herrschaftsform (nicht Staatsform), in der alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Diese Herrschaftsform gründet auf der Selbstbestimmtheit und damit auch auf der Selbstverantwortung jedes Einzelnen der Spezies Homo sapiens, des Menschen. Da in einer organisierten Menschengemeinschaft, einem „Staat“, aus naheliegenden Gründen nicht alle „Staat machen“ können, muss die Gemeinschaft einen Teil ihrer Mitglieder, die sich zuvor dazu freiwillig bereit erklärten, mittels Wahlen delegieren, damit diese die notwendigen Aufgaben in den Organen übernehmen (Artikel 20 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz). Die Menschengemeinschaft gibt damit ihre Macht nicht an Einzelne ab, sondern beruft diese nur auf Zeit Dienst zu leisten innerhalb einer der drei Organe (Legislative, Exekutive und Judikative) und damit auch an der Menschengemeinschaft.

Die bereits erwähnte Selbstbestimmtheit hat ihre Ursache in der bereits erwähnten Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Die Selbstbestimmtheit ist wiederum Ursache und Begründung des Anspruches, dass in einer Menschengemeinschaft, die wir „Staat“ nennen, alle Staatsgewalt (richtiger: Organgewalt) vom Willen der Menschengemeinschaft, dem Volke ausgehen muss.

Der HAUPTSATZ DER DEMOKRATIE beschreibt das Demokratieprinzip, welches sich auch dadurch ausdrückt, dass die Wahrnehmung der Aufgaben und die Durchsetzung der Befugnisse der Organgewalten, sich stets auf den Auftrag, sprich den Willen der Mehrheit des Volkes zurückführen lassen muss und auch gegenüber diesem zu verantworten hat. Dieser Wille des Volkes muss in Gesetzen sichtbar sein, die mittels demokratischer Verfahren geschaffen wurden. So sieht es das Grundgesetz vor und nichts anderes meinte im Kern auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung BVerfGE 83, 71 ff.

Der HAUPTSATZ DER DEMOKRATIE schreibt das Selbst- und Letztbestimmungsrecht der Bürger unabänderlich fest („Ewigkeitsklausel“ aus Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz) und damit auch die Souveränität des demokratischen und sozialen Bundesstaats Bundesrepublik Deutschland (Artikel 20 Abs. 1 Grundgesetz). Das Letztbestimmungsrecht wird auch durch Artikel 20 Abs. 4 Grundgesetz ausgedrückt: Die Bürger können ihre demokratische Ordnung auch nach Innen hin mit Gewaltanwendung verteidigen, wenn eine andere, friedfertige Abhilfe der Gefahr nicht möglich ist.

Es ist also mit der Demokratie nicht so, wie sich Gauck etwas kryptisch auszudrücken beliebt. Demnach sei Demokratie „…jenes lebendige Gebilde, das Partizipation ermöglicht und Identifikation neben den Parteien schafft.“ Dieses unbestimmte Reden wird auch nicht dann bestimmter, wenn sich Bürger „in Beziehung zu anderen setzen…“.

Auch Gaucks Formulierungen gleich zu Beginn seiner Rede lassen erkennen, dass er die Beziehungen zwischen Demokratie und Freiheit nicht verstanden hat. Es gibt nicht Freiheit und Demokratie, so, als ob beides getrennt betrachtet werden könnte. Richtig ist vielmehr: Demokratie ist Ausdruck der Selbstbestimmtheit jedes einzelnen Mitgliedes in einer organisierten Menschengemeinschaft. Damit bedeutet Demokratie stets Freiheit und so ist in einer Menschengemeinschaft Freiheit nur mittels der Herrschaftsform Demokratie möglich.

Solches, wie vorstehend zu den Begriffen „Freiheit“ und „Demokratie“ dargestellt oder zumindest etwas, was im Kern damit übereinstimmt – ist in der Rede des Bundespräsidentschaftskandidaten Gauck nicht auszumachen. Auch ist beispielsweise nichts von der zunehmenden Missachtung der Selbstbestimmtheit der Bürger durch die Politik zu vernehmen. Aber man kann ja hoffen.

Wenn Joachim Gauck sich einmal bemüht hat zu verstehen, dass die Prinzipien der Demokratie auf der Selbstbestimmtheit jedes Menschen beruhen, dann wird er Demokratie auch nicht mehr – wie in den Schlusssätzen seiner Rede – mit dem unbestimmten, fast metaphysischen Begriff des „Glücklichseins“ gleichsetzen. Er wird dann begreifen, dass die Bürger keine Demokratie „haben“, so, wie man einen Gegenstand besitzt oder ein Recht hat, vielmehr die Bürger aus ihrer Selbstbestimmtheit heraus Demokratie selbst gestalten müssen. In solcher Selbstbestimmtheit können die Bürger – losgelöst von einem nur äußeren Rahmen aus Politik und Herrschaftsform – ihr persönliches Glück erhoffen und auch gestalten und damit auch zum Glücklichsein ihrer Mitmenschen beitragen. Der mehrdeutige Begriff „Glück“ kann, soweit ein Ergebnis des Zufalls gemeint ist, unerörtert bleiben.

Zum Schlusse muss noch gesagt werden: Die vorstehende Kritik an Joachim Gaucks Rede soll keine Empfehlung anderer Bundespräsidentschaftskandidaten sein. Sie soll auch nicht darüber hinwegsehen, dass die weitaus überwiegende Mehrheit der wahlberechtigten Bürger zu einem Bundespräsidentschaftskandidaten weder ein NEIN noch ein JA zum Ausdruck bringen kann. Und auch das ist eine der vielen Missachtungen der Selbstbestimmtheit der Bürger.

Bert Steffens

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