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Herr Erdogan und sein Kampf um den Gazastreifen

 

Zwei Tage nach dem israelischen Angriff auf die „Free-Gaza“-Flottille kann kein Zweifel daran bestehen, dass das entsetzliche Blutbad politisch als ein Debakel für Israel und als Sieg für die Hamas zu bewerten ist. Was sich im einzelnen bei der Kaperung der „Mavi Marmara“ zugetragen hat, von welcher Seite die hemmungslose Gewalt ausgegangen ist, und auch wo genau sich der Vorfall ereignet hat, also ob im internationalen Gewässer oder nicht, kann zur Stunde noch nicht mit letzter Sicherheit konstatiert werden.
Unklar ist, ob Israel der von vielen Seiten geforderten internationalen Untersuchungskommission zustimmen bzw. ggf. mit einer solchen zusammenarbeiten wird. Und selbst in diesem, gegenwärtig eher unwahrscheinlichen Fall ist zu bezweifeln, dass die genannten Fragen so weit geklärt werden könnten, dass künftig von einer unumstrittenen Faktenlage ausgegangen werden kann.
So kann auch weiterhin jeder die Katastrophe vom Montag Morgen im großen und ganzen so schildern, wie sie am besten mit seiner bislang bestehenden Sichtweise auf den Nahostkonflikt kompatibel ist. Dabei wären gerade Kenntnisse über einige Details nicht ganz unerheblich.

Für die Beurteilung der israelischen Aktion als „völkerrechtswidrig“ wäre es zum Beispiel schon wichtig zu wissen, ob sie in israelischem Hoheitsgewässer stattgefunden hat oder nicht. Dass die Aktion der „Friedensaktivisten“ ohnehin gegen internationales Recht verstoßen hat, sei hier nur der Vollständigkeit halber am Rande bemerkt.
Nach dem Seevölkerrecht obliegen den Staaten innerhalb der Zwölf-Seemeilen-Zone (umgerechnet 22,2 km) alle hoheitlichen Befugnisse; in der Anschlusszone (noch mal 12 sm) ist der Staat – in diesem Fall Israel – berechtigt, Zoll- und Einreisekontrollen vorzunehmen.
Weiter wäre es wichtig zu wissen, ob die israelischen Soldaten in Notwehr geschossen haben oder in relativ unbedrängter Situation in Tötungsabsicht. Israelische Aufnahmen zeigen auf Soldaten mit Stangen einprügelnde „Friedensaktivisten“; die Demonstranten, deren Aufnahmen beschlagnahmt sind, sprechen von gezielten Schüssen in den Kopf.
Hatten die Demonstranten mit Äxten, Messern, Pfefferspray und ähnlichen Waffen versucht, ihr Schiff zu „verteidigen“, und selbst falls ja, warum kamen gleich (mindestens) neun Menschen zu Tode, als die schwerbewaffnete Spezialeinheit das Schiff unter ihre Kontrolle brachte?

Von der Beantwortung dieser Fragen sollte eigentlich jegliche Schuldzuweisung abhängen. Doch eine „Suche nach dem Schuldigen“ findet nicht nur deshalb nicht statt, weil sich in Israel Regierung und Militär unkooperativ zeigen. Die „Suche nach dem Schuldigen“ erübrigt sich für all diejenigen, für die Israel von vornherein als „Aggressor“ feststeht. Als der einzige „Schuldige“. Um nicht missverstanden zu werden:
„Die militärische Erstürmung eines Schiffes ist immer ein Risiko. Erst recht, wenn sich darauf auch Islamisten befinden, die bereit sind, die Situation eskalieren zu lassen. Die Israelis hätten sich dessen bewusst sein und von vornherein auf die Aktion verzichten müssen. Und im Falle einer Erstürmung hätten sie vermeiden müssen, dass Zivilisten getötet werden.“
So die FTD in ihrem Leitartikel, der die Meinung der Redaktion wiedergibt. Ich schließe mich dieser Auffassung ohne Einschränkung an. Und völlig unverständlich ist für mich, warum der ansonsten hochgelobte israelische Geheimdienst offenbar keinen blassen Schimmer davon hatte, dass türkische Hamas-Sympathisanten an Bord der „Mavi Marmara“ waren, deren Bewaffnung und mentale Kampfbereitschaft weit über Formen des zivilen Ungehorsams hinausgingen.

Die Hamas selbst hatte bereits Tage zuvor keinen Hehl daraus gemacht, dass sie sich im klaren darüber ist, sich in einer Win-Win-Situation zu befinden. Lasse Israel die Flottille passieren, sei die Seeblockade gebrochen. Würden die Schiffe jedoch gestoppt bzw. nach Israel umgeleitet, könne man einen Propagandaerfolg verbuchen, stellte Hamas-Führer Hanija in aller Offenheit schon im Voraus klar.
Und doch nehme ich an, dass auch Hanija nicht mit einem derart „eindrucksvollen Erfolg“ der Solidaritätsaktion gerechnet haben dürfte. Zehn tote Türken, internationale Proteste durch die Regierungschefs, sofortige Sitzung des Weltsicherheitsrates inklusive Verurteilung Israels, Massendemonstrationen in der arabischen Welt und in der Türkei … und was am Wochenende in den westlichen Metropolen von New York bis Duisburg los sein wird, muss man sehen.
Und das aus Sicht der Hamas vielleicht Allerwichtigste – jedenfalls wichtiger als das Ende der Gaza-Blockade: zumindest von ägyptischer Seite: Israel hat seinen einzigen Partner in der Region verloren. Die ohnehin gespannten Beziehungen zwischen der Türkei und Israel sind seit dem Vorfall an einem neuen Tiefpunkt angelangt.

Recep Tayyip Erdogan, der türkische Ministerpräsident, macht durch martialische Sprüche ganz besonders auf sich aufmerksam: Eine kleine Auswahl von Zitaten gefällig?
„Blutiges Massaker“ – okay, das geht noch. Schon kräftiger: „Sie haben der Welt einmal mehr gezeigt, wie gut sie morden können.“
Und um deutlicher zu machen, worum es eigentlich angeblich gehe: "Die Welt hatte schon fast vergessen, wie es in Gaza aussieht." Aber nicht mit Tayyip Erdogan! Nicht mit ihm!
"Auch wenn andere schweigen, die Augen verschließen oder sich abwenden: Die Türkei wird immer hinter Palästina und hinter Gaza stehen", sagte Erdogan unter tosendem Applaus.
Erinnern Sie sich? Ende Januar, der Gaza-Eklat in Davos – Erdogan stürmt vom Podium. Seither ist Erdogan der neue Held der arabischen Massen, und – was noch praktischer ist – auch unumstritten in der eigenen Bevölkerung. Erinnern Sie sich bitte auch daran, dass ebenfalls zu Jahresbeginn der Machtkampf zwischen seiner islamistischen Partei und den kemalistischen Eliten auf des Messers Schneide stand.

Seit Davos verschärft Erdogan kontinuierlich die Spannungen mit Israel; denn der innen- wie außenpolitische Benefit liegt für ihn klar auf der Hand. Wenn es gegen Israel geht, ist die Zustimmung der türkischen Bevölkerung gewiss. Mögen die Menschen noch so säkular oder westlich orientiert sein, kemalistisch und / oder gar links. Der Pakt der alten Elite mit Israel ist allen ein Dorn im Auge, Erdogan gleichsam der Erlöser.
Auch die Vorstellung von der Türkei als Musterland innerhalb der muslimischen Welt schmeichelt nicht nur dem „Mann auf der Straße“, sondern auch seiner Frau – und vor allem schlägt sich in ihr ein realer Ausbau der Stellung als Regionalmacht nieder.
Die Türkei, umständehalber also Erdogan, als Vermittler zwischen der ganzen Welt und dem befreundeten Iran. Keine Frage: der Bruch der Beziehungen mit Israel bringt Erdogan eine Reihe von Vorteilen. Israel dagegen nur Nachteile.

Und so gießt Tayyip Erdogan so kräftig, wie es nur geht, Öl ins Feuer: "Niemand sollte die Geduld der Türkei auf die Probe stellen. So wertvoll die Freundschaft der Türkei ist, so heftig ist ihre Feindschaft." Sie können den Satz ruhig noch einmal lesen. Schmunzeln Sie nicht! Es ist reine Kriegsrhetorik. Oder nehmen Sie diesen hier: "Es soll deutlich werden, dass wir nicht ruhig und teilnahmslos angesichts dieses inhumanen Staatsterrorismus bleiben werden."
Nicht ruhig und teilnahmslos bleiben, sondern …? „Die Türkei wird das nicht auf sich beruhen lassen.“ Erdogan fordert den Weltsicherheitsrat auf, es nicht bloß bei einer Verurteilung des israelischen Vorgehens zu belassen. Israel müsse „unbedingt bestraft werden“.

Recep Tayyip Erdogan ist übrigens, auch wenn er in den Medien hierzulande als „neuerdings etwas gemäßigt“ dargestellt wird, wirklich ein islamischer Fundamentalist. Der politische Ziehsohn Erbakans – in der Türkei einst wegen seiner Sympathien für den Dschihad und die Scharia inhaftiert und mit einem lebenslänglichen politischen Betätigungsverbot belegt – hat sich bis heute nicht von „seiner Vergangenheit“ distanziert. Warum auch? Es ist ja seine Gegenwart.
Er moniert, der Iran werde vom Westen ungerecht behandelt. Wer selber über Atomwaffen verfüge, könne nicht das Nuklearprogramm Teherans kritisieren. Mahmud Ahmadinedschad sei „ohne Zweifel unser Freund”. Ebenso verteidigte Erdogan Sudans Staatschef al-Baschir gegen Vorwürfe: "Ein Muslim kann keinen Völkermord begehen", erklärte Erdogan.
Und noch etwas: ist Ihnen eigentlich aufgefallen, dass die israelische Einnahme auf allen Schiffe der „Friedensflotte“ tatsächlich friedlich verlaufen ist? Nur eben auf der „Mavi Marmara“ nicht. Auf diesem Schiff waren mit rund 600 Personen die meisten Leute. Ein türkisches Schiff. Gestartet in der Türkei. Organisiert von einer türkischen Hamas-nahen Hilfsorganisation.
Ich weiß: „Cui bono?“ ist ein schwaches Argument. Nur: wenn sich dieses Gemetzel auf der „Mavi Marmara“ nicht ereignet hätte, über kurz oder lang wären die Freunde Ahmadinedschad und Erdogan schon auf diese grandiose Idee gekommen.

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