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„Wenn du kein Deutsch kannst, dann bist du auch bei der Auslandsbehörde verloren“ – Ein Interview mit dem Duisburger Flüchtlingsbetreuer Youssef „Joe“ Chemao

Der Begriff „Flüchtling“ wird in Deutschland momentan sehr kritisch gehandelt. Doch hat man sich einmal wirklich mit dem Thema auseinandergesetzt? Im Unterschied zum Migranten, gilt nach der Genfer Flüchtlingskonvention eine Person, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Ethnie, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will“ als Flüchtling.
Flüchtlinge haben unter Umständen ihre Heimat verlassen, weil sie dort verfolgt oder misshandelt und gefoltert wurden. Die Flucht verläuft teilweise unter dramatischen und strapaziösen Umständen. Neben physischen Verletzungen leidet ein Teil von Flüchtlingen unter posttraumatischen Belastungsstörungen oder Depressionen. Flüchtlinge haben aufgrund ihrer Situation oft Ungewissheit, wo sie in Monaten oder Jahren leben werden und wie es um Familienmitglieder im Heimatland steht. Sie kommen oft mit ein wenig Hab und Gut hierher was sie noch mitnehmen konnten, als sie ihre Heimat verließen. Die Unterbringungen sind teilweise menschenunwürdig. Dennoch sind die Flüchtlinge dankbar für diese Unterbringungen. Zahlreiche Organisationen unterstützen diese, sich einigermaßen in einem Land, in dem sie als Fremde gelten, sich orientieren zu können.
Der Verein „mehrflüchtlingshilfe“ e.V. (mehr-fluechtlingshilfe.de) in Duisburg gehört zu einer neu gegründeten Organisation, die sich das Hauptziel gesetzt hat, Flüchtlingen die Lebensqualität hier in Deutschland zu verbessern. Gründungsmitglied Joe Chemao erklärte uns in einem ausführlichen Interview, in welche Verfassung diese Menschen sind, wenn sie in Duisburg ankommen und wie der Verein sich stark macht für Fremde, die keine Fremden sein wollen.
Du kümmerst Dich um Flüchtlinge, die nach Duisburg kommen. Kannst Du unseren Lesern beschreiben, in welchem körperlichen und seelischen Zustand sie sich befinden?

Youssef „Joe“ Chemao

Es fängt schon damit an, wie man Flüchtling definiert. Momentan gilt jeder als Flüchtling. Dies ist ja schon eine breit gefächerte Frage. Es muss gefragt werden, ob man vor Armut oder Krieg flüchtet. Es gibt Jene aus Kriegsgebieten. Diese saßen zum Beispiel eine ganze Weile in Griechenland fest. Dann kommt es auch darauf an, über welche Route sie eingereist sind, und wie sie eingereist sind. Es gibt Flüchtlinge, die eingeflogen sind, oder auch Flüchtlinge, die zu Fuß unterwegs waren. Und dann kommt es darauf an, ob sie aus Osteuropa kommen, oder aus Zentralafrika, oder aus Syrien, oder Pakistan. Ich kann nur sagen, dass Flüchtlinge, die aus Kriegsgebieten und aus Afrika kommen, in der Regel erst einmal froh sind, wenn sie hier ankommen. Sie sind erst einmal optimistisch.

Kommen die Flüchtlinge in der Regel immer über Griechenland nach Deutschland, oder direkt über Syrien?

Im Moment betreue ich zum Beispiel einen Flüchtling, der eine ganze Zeit lang in Griechenland „undercover“ in einem Waldstück gelebt hat, bevor er hier herüber kam. Er ist mit einem gefälschten Reisepass nach Deutschland eingereist. Dann habe ich einen weiteren Flüchtling, der gerade erst 19 Jahre alt ist, und zu Fuß über Mazedonien und der Türkei gekommen ist. Mazedonien hat er mit dem Fahrrad bewältigt. Die Flüchtlinge verwenden unterschiedliche Routen. Es gibt die über Griechenland. Diese müssen dann eben eine Fähre bekommen, um sich absetzen zu können. Dann gibt es die Flüchtlinge, die an gefälschte Papiere kommen können und dann fliegen. Und dann gibt es die Menschen, die einfach nur zu Fuß fliehen können. Viele Flüchtlinge stranden in Griechenland oder Italien. In Italien erhalten sie Geld und eine Aufforderung, damit nach Deutschland zu fahren. Es gibt dieses Dubliner Abkommen. Dort, wo der Flüchtling seine ersten Fußstapfen hinterlässt, wird er registriert, Fingerabdrücke werden genommen. Oft ziehen diese dann weiter nach Osteuropa oder nach Deutschland. Und in diese Länder wirst du wieder abgeschoben, wenn der Asylantrag nicht genehmigt wird. Viele kommen über Osteuropa hier her, stellen einen Asylantrag, leben hier ein Jahr, und werden wieder zurück – nach Italien zum Beispiel – abgeschoben. Was machen sie, wenn sie dort ankommen? Sie kommen wieder zurück. Es kommt keine Stabilität in das Leben der Menschen. Für einzelne Personen geht es ja, doch für Familien ist dieses System eine Katastrophe.

Du betreust also Flüchtlinge, die schwer traumatisiert sind, und auch diejenigen, die normal geblieben sind.

Man kann das wie verschiedene Etappen sehen. Wie zum Beispiel bei der Tour de France. Jemand, der es schafft, alle Etappen zu bewältigen, der ist ja schon irgendwie etwas Besonderes. Die meisten Leute, die labil sind, die kommen leider nicht so weit. Jeder Flüchtling hat verschiedene Etappen bewältigt. Er hat zum Beispiel viele Tote gesehen, oder er hat es geschafft, irgendwie Geld aufzutreiben in einem Land, in dem es kaum mehr Geld gibt. Dazu gehört auch ein gewisses Geschick und eine gewisse Intelligenz. In einigen Ländern haben sie sich dann auch relevante Sprachen mit der Zeit angeeignet. Es kommt dann auch darauf an, wie lange die Flüchtlinge an einem gewissen Standort ausharren müssen. Es gibt dann durchaus Flüchtlinge, die austicken, wenn es zu lange andauert. Doch wenn sie an ihrem Ziel angekommen sind, sind die meisten Flüchtlinge froh. Sie sind froh, in Sicherheit zu sein. Es gibt Flüchtlinge, die wissen, dass sie in Deutschland bleiben können, aber die meisten fragen an, wie lange sie bleiben dürfen. Die meisten sind oft verängstigt, wenn sie gerade erst angekommen sind, über Nacht direkt nach Bulgarien abgeschoben zu werden oder Ähnliches.

Wie sehen in der Regel die Flüchtlingsunterkünfte hier in Duisburg aus?

Sie sehen alle in der Regel nicht toll aus. Die Flüchtlinge, die hier untergebracht werden, müssen ja in den zugeteilten Unterbringungen leben. Obwohl es genug von ihnen gibt, die anfragen, ob sie nicht besser in Zelten schlafen könnten. Denn teilweise leben sie mit 40 – 50 Leuten in einer Turnhalle. Sie sind in Stockbetten untergebracht. Dann sind es Flüchtlinge aus verschiedenen Krisengebieten. Sie vertrauen sich dann untereinander nicht. Es bleibt dann immer einer wach, der aufpasst, dass sie nicht beklaut werden. So richtig zur Ruhe kommt niemand. Es gibt unter ihnen Ingenieure und Informatiker, und auch Menschen, die noch nie in einer Schule waren. Es ist schon bunt gemischt. Es ist genau so, als würde man 100 Deutsche in einem Linienbus einsperren. Man ist sich untereinander fremd. Man kennt niemanden. Und du musst mit ihnen klar kommen. Das größte Problem sind die sanitären Anlagen. Und sie haben nicht die Möglichkeit, ihren eigenen Bereich – wenn sie diesen mal verlassen müssen – abzuschließen. Sie haben keine Kontrolle darüber, ob jemand Fremdes auf ihren Betten herumspringt oder ihr persönliches Hab und Gut durchwühlt. Dieses ständige Misstrauen eben. Die Vorurteile untereinander, die auch wir Deutsche untereinander haben. Vorurteile zu haben ist nun mal menschlich. Und die Flüchtlinge leben in einer für normale Menschen unwirklichen Situation. Und das wesentliche Problem ist nun mal der Gedanke, wie lange das noch andauern wird. Und dies führt dazu, dass die Flüchtlinge psychisch wie auch physisch abbauen. Sie kommen mit guter Laune und Freude an, dann dauert es mal einen oder auch mehrere Monate, bis sie in eigene Unterkünfte unter kommen. Oder sie erhalten nach fünf Monaten die Nachricht, dass sie wieder zurück nach Bulgarien müssen. Ich hatte einen Fall dabei, der sich nach der Nachricht auf die Straße gesetzt hat, und sich aus Verzweiflung die Arme aufgeschlitzt hat. Ich habe auch beobachten können, dass der ein oder andere nicht mehr auf die Toilette gehen kann, weil sich die psychische Blockade auf den ganzen Körper übertragen hat. Der andere hat Angst, dass er wieder zurück nach Griechenland muss.
Mit welchen Hoffnungen und Wünschen kommen die Flüchtlinge hierher? Sprechen die Flüchtlinge mit euch darüber?

Wir als Verein versuchen, dabei eine gewisse Distanz zu wahren. Wir versuchen schon für die Flüchtlinge da zu sein, aber wir versuchen da auch nicht zuviel nachzufragen. Wir sind nicht der Staat, und wir wollen ihnen nicht das Gefühl geben, Rechenschaft abzulegen. Manch einer lügt ja auch. Kommt auch oft genug vor. Unter ihnen gibt es auch Marokkaner, die sich als Syrer ausgeben. Wir wollen niemanden zum lügen nötigen. Es kam zum Beispiel eine junge Frau aus Nigeria hier hin. Sie hat hier in Duisburg entbunden und hat einen dreijährigen Sohn mitgebracht. Sie kam komplett alleine. Mit ihr habe ich mich sehr gut verstanden. Wir haben uns viel unterhalten. Irgendwann brach sie zusammen und erzählte mir, dass sie mehrfach auf der Flucht vergewaltigt wurde. Sie wurde zwei Jahre in Italien zwangsprostituiert. Irgendwann reißt du unbewusst Sachen bei Flüchtlingen auf, womit du einfach nicht rechnest. Das kannst du dann auch nicht stoppen. Wenn man ein wenig bei jemanden an der Oberfläche kratzt, reißt man irgendwann etwas auf. Wenn die Flüchtlinge von alleine kommen, und die etwas erzählen, dann ist das okay. Welche Hoffnungen und Träume sie haben ist ja einfach. Sie wollen einfach nur Sicherheit. Einzelne wollen auch gerne ihre Familie nachholen. Sie wollen ihre Kinder wieder sehen. Es gibt aber auch Leute, die sich hier auf ihren Tod vorbereiten. Vor allem Ältere, die in aller Ruhe nochmal beten wollen. Oder sie wollen ihre Enkel nochmal sehen, die irgendwo in der Türkei stecken. Und viele von ihnen wollen auch keine Gelder vom Staat haben. Sie empfinden es als beschämend. Dort, wo sie herkommen, hatten sie Firmen oder Immobilien. Sie hatten was und sind es gewohnt, anderen zu helfen und zu geben. Sie waren immer in der Situation, nach nichts fragen zu müssen. Das ist aber auch nur ein Teil. Es gibt genug, die nur deswegen hierher kommen.

Welche Probleme haben ehrenamtliche Helfer wie du im Umgang mit den Flüchtlingen?

Das ganze Interview können Sie auf BACHTALO http://bachtalo.de/2015/08/20/bachtalo-215/ lesen

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