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Ägypten und die arabische Welt: Überlegungen zum authentisch-sunnitischen System

Kairo, Basar

Kairo, Basar (Photo credit: Wikipedia)

Am Samstagnachmittag meldet die ARD Tagesschau unter der Überschrift „Ägypten: Mursi sucht offenbar Schulterschluss mit Militär“: „Angesichts der schweren Krise in Ägypten sucht Präsident Mursi offenbar verstärkt die Hilfe des Militärs. Laut staatlicher Tageszeitung `Al Ahram´ plant Mursi einen Erlass, der Soldaten die Festnahme von Zivilisten erlauben würde.“ Eine eigenartige Überschrift. Einerseits noch etwas unsicher („offenbar“), andererseits aber doch mit einer klaren Orientierung. Man ahnt etwas. Das Subjekt ist benannt: Mursi. Er ist der Akteur, wenngleich auf der Suche. Dem Militär kommt dagegen die Rolle eines verschwiemelten Anhangs ans Objekt zu. Also noch etwas unschuldiger als die umworbene Dorfschönheit.

 

Es kommt mir so vor, als habe die ARD-aktuell-Redaktion die Ereignisse von Anfang August irgendwie verdrängt. Zugegeben, ich weiß auch nicht, was damals wie so ganz genau gelaufen ist. Dass es seither aber einen „Schulterschluss“ gibt, scheint mir unübersehbar zu sein. Der Begriff „Schulterschluss“ impliziert, dass es schon um noch zwei verschiedene Akteure handelt. Akteure in einem strategischen Bündnis, das sich der Unterstützung der breiten Bevölkerungsmehrheit sicher sein kann. Gewiss, es gibt in den Städten den erheblichen Widerstand der demokratisch-revolutionären Kräfte. Die Frage ist jedoch nicht, ob, sondern wie er gebrochen wird. Weder das Militär noch Mursi sind nämlich an Blutvergießen interessiert. Das muss fairerweise auch einmal gesagt werden!

 

Beide setzen auf einen zentral gelenkten Staat. Dass ein funktionierender Zentralstaat tatsächlich die bessere Alternative ist, zeigt sich schon jetzt recht eindrucksvoll am Beispiel des Sinai. Israel hatte im Friedensvertrag mit Ägypten durchgesetzt, dass die große Halbinsel entmilitarisiert zu bleiben habe. In diesem Vakuum haben Al-Qaida-Gruppen Bastionen aufgebaut, von denen aus sie ägyptische Grenzposten und danach Israel angreifen. Deshalb muss man dem Bündnis aus Islamisten und postkolonialem Militärregime keinerlei Sympathien entgegenbringen. Wissen muss man aber, dass auch die revolutionär-demokratische, säkulare Opposition es kaum abwarten kann, Palästina zu „befreien“.

 

Unter „Palästina“ verstehen diese urbanen Mittelschichten freilich nicht nur den Gazastreifen, der übrigens schlicht mit der Öffnung eines Grenzübergangs „befreit“ wäre. Mit welchem Resultat auch immer der gegenwärtige Machtkampf zwischen Mursi und den säkularen Mittelschichten enden wird: in Ägypten schälen sich gerade die Konturen eines authentisch-sunnitischen Systems heraus. Allen anderen arabischen Staaten werden früher oder später diesem Weg folgen – zunächst in Nordafrika, dann in Westasien und schließlich am Golf. Ein authentisch-sunnitisches System ist gegenwärtig gekennzeichnet durch die Herrschaft der Muslimbrüder bei gleichzeitig dominanter politischer Einflussnahme durch ein starkes, nämlich überproportional aufgeblähtes, Militär, angereichert mit formaldemokratischen Verfahren.

 

In Tunesien, dem von der Weltöffentlichkeit wesentlich weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist gegenwärtig der gleiche Transformationsprozess im Gange wie in Ägypten, unter ähnlich stark eskalierenden Konflikten. In Libyen zeichnet sich ein ähnliches Bild ab, zumal die ägyptische Muslimbruderschaft dabei ist, Positionen im reichen Nachbarland zu beziehen. Nach dem Ende des Bürgerkriegs wird sich auch Syrien ein streng durchmilitarisierter Staat etablieren. Denkbar ist, dass eine Phase des gewaltsamen Konfliktes zwischen der Muslimbruderschaft und (teils ausländischen) salafistischen Gruppen auf die Zerschlagung aller nicht-sunnitischen islamistischen Kräfte folgt. Wie lange dies alles noch dauern wird, ist nicht vorherzusehen.

 

Auch allgemein ist nicht prognostizierbar, wie lange es dauern wird, bis sich in allen sunnitischen Staaten dieses historisch-adäquate Modell durchgesetzt haben wird. Auch scheint mir unvermeidlich zu sein, dass diese Transformation bei den Saudis bzw. auf der arabischen Halbinsel schlechthin einen enormen Blutzoll fordern wird. Ein mehr oder weniger einheitlicher sunnitischer Raum löst in Israel verständlicherweise Sorgen aus. Noch wesentlich dunkler sind die Aussichten für die Schiiten sowie für ethnische und religiöse Minderheiten wie Christen, Drusen etc. Sie erhalten in Syrien und Im Libanon gerade einen Vorgeschmack, was das Ende des postkolonialen Zeitalters und die Etablierung authentisch-sunnitischer Systeme für sie bedeuten wird.

Die arabisch-islamische Welt hat ihr (europäisches) „Mittelalter“ erst noch vor sich.

 

 

 

Diese Überlegungen hatte ich im Rahmen einer Facebook-Diskussion mit Ralf Röder entworfen. Vieles, etwa auch der Begriff des authentisch-sunnitischen Systems, geht dabei auf Gil Yarons Vortrag vom letzten Dienstag zurück.

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