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Ägypten: Die Sache ist entschieden

Deutsch: Der Sphinx vor der Chephren-Pyramide ...

Deutsch: Der Sphinx vor der Chephren-Pyramide auf dem Giseh-Plateau bei Kairo, Ägypten (Photo credit: Wikipedia)

Man tut sich schwer. Sehr schwer. In Ägypten, aber auch in den Redaktionen hier. Möglicherweise auch innerhalb unserer „politischen Klasse“. Dabei ist – spätestens seit gestern – die Sache sonnenklar: die Machtfrage in Ägypten ist entschieden. Eindeutig, und in gewisser Hinsicht auch: ein für alle Male. Gewiss, Machtfragen an sich sind niemals „ein für alle Male“ entschieden. Für sich genommen steht aber fest, dass diejenigen Kräfte in Ägypten, die hierzulande wahlweise als „demokratisch“, „säkular“, „liberal“ o.ä. bezeichnet werden, gegen die Muslimbrüder und ihre Verbündeten den Kürzeren ziehen werden. Sie wollen es noch nicht wahr haben, aber es steht fest: die Sache ist entschieden.
Es mag sein, dass die Ägypter, die die Transformation des Landes in eine Theokratie verhindern wollen, sich noch einmal aufbäumen werden. Es mag noch blutige Auseinandersetzungen auf den Straßen geben. Ein weiteres Gemetzel auf dem Tahrirplatz. Ägyptens Verfassungsgericht mag seine Entscheidung zur Rechtmäßigkeit der Verfassungsversammlung vertagen so oft und so lange es will. Was dürfte noch ein Urteil nützen, das besagt, die alte Verfassung gebrochen worden ist, wenn die neue Verfassung schon mit überwältigender Mehrheit vom Volk angenommen sein wird?! Sprich: das Verfassungsgericht gibt es dann schon gar nicht mehr.
Auch die ägyptischen Oppositionellen… – nennen wir sie am besten „Oppositionelle“; denn sie waren es, die Mubarak die Stirn geboten hatten, und sie werden es länger bleiben, als ihre jetzigen Personen leben. Denn auch die ägyptischen Oppositionellen sind sich völlig im Klaren darüber, wie das Referendum in zwei Wochen ausgehen wird. Am 15. Dezember wird das Volk den vorliegenden Verfassungsentwurf eindrucksvoll bestätigen – wahrscheinlich mit einer Zweidrittelmehrheit. Warum sollten die Millionen und Abermillionen Menschen auf den Dörfern in einem Land ohne jede demokratische Tradition, mit von den Islamisten beherrschten Fernsehkanälen, mit lokaler Präsenz der Muslimbrüder, während ein sozialdemokratischer Ortsverein fehlt, auch anders entscheiden?!
Spätestens seit gestern ist klar, dass das postrevolutionäre Ägypten die Gestalt eines Gottesstaates haben wird. Vor – sagen wir: einem Vierteljahr war dies noch nicht so klar. Da stand noch keineswegs fest, ob – und, wie wir heute wissen: dass es zu einem Bündnis zwischen Salafisten und Muslimbrüdern kommen wird. Keine Kleinigkeit, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Salafisten allein etwa genau so stark sind wie die Tahrirplatz-Bewegung. Zu Demonstrationen mögen sie quantitativ einige Menschen weniger auf die Waage bringen, dafür ist ihr Vorgehen auf der Straße gegebenenfalls ungleich brutaler, und „ihre Partei des Lichts“ hatte bei den Wahlen genauso stark abgeschnitten wie die zersplitterte Parteienlandschaft der Liberalen und Linken insgesamt.
Noch entscheidender als die (gegenwärtige) Einheit aller islamistischen Kräfte ist jedoch das Bündnis aus Muslimbruderschaft und ägyptischem Militär. Mursi ist es mit seinem – hier irrtümlicherweise als eine Art „Putsch“ – verstandenem Vorgehen gelungen, die Spitze der Mubarak-Komissköppe „nach oben“ wegzubeordern. Mehr oder weniger einvernehmlich, wodurch sich den jüngeren Nachrückern glänzende Karriereaussichten boten und bieten. Gleichzeitig garantieren Mursi und die Muslimbrüder der Armee ihre überragende Stellung. Dem Militär kann es freilich ziemlich egal sein, welches politische Projekt ein Präsident verfolgt, so lange seine Existenz als Staat im Staate gesichert ist.
An diesem Punkt ergeben sich freilich Ansatzpunkte für die Einflussnahme der USA, die die kostspielige ägyptische Armee in erster Linie finanzieren. Allerdings dürfen diese US-amerikanischen Möglichkeiten auch nicht überschätzt werden. Einen Herr-im-Hause-Standpunkt nach dem Motto „Wenn Ihr die Scharia einführt, streichen wir Euch die Militärhilfe“ können die Amerikaner ganz gewiss nicht mehr einnehmen. Es wäre auch nicht zutreffend, das neue, islamistische Ägypten schlicht als eine Militärdiktatur zu begreifen. Zwar verliert die Armee zunächst einmal gegenüber ihrer Stellung zur Mubarak-Zeit im Grunde kaum Positionen, doch ein Unterschied ist beträchtlich.
Das neue, nämlich islamistische Ägypten ist demokratisch verfasst. Demokratie hier übersetzt als „Herrschaft des Volkes“, definiert durch das Mehrheitsprinzip. Der westliche Demokratiebegriff zeichnet sich demgegenüber durch seine prinzipielle Bindung an die Prinzipien der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit aus. Davon kann freilich in islamistischen Systemen nicht gesprochen werden. Doch der Islamismus in Ägypten wird, wie übrigens auch jetzt schon der im Iran, nach „demokratischen“ Spielregeln funktionieren. Der Präsident wird frei und demokratisch gewählt, das Parlament auch, allein das höchste Gericht wird – auch hier greift die Parallele zum Iran – nicht demokratisch legitimiert, sondern ein Rat der höchsten Religionsgelehrten der al-Azhar-Universität sein.
Es versteht sich, dass diese Klärung der Machtfrage in Kairo erhebliche Auswirkungen auf den gesamten arabischen Raum haben wird. Ägypten ist zwar keineswegs das reichste, wohl aber das größte und mächtigste arabische Land. Die sunnitisch-fundamentalistischen Kräfte werden nach ihrem Sieg am Nil auch in allen anderen arabischen Ländern ihre Macht ausbauen bzw. günstigere Voraussetzungen für ihre Machtübernahme erhalten. Die Folgen werden sein, dass sich in Tunesien, wo derzeit der Machtkampf offen tobt, das Blatt zu ihren Gunsten wenden wird. In Algerien wird die scheinbare Ruhe ein schnelles Ende finden. Für Herrn Assad sind die Aussichten in Syrien (und im Libanon) auch nicht gerade günstiger geworden.
Von zentraler Bedeutung wird aber Ägyptens gewachsenes Gewicht im Konzert mit den anderen machtstarken „Playern“ sein: der Türkei, Saudi-Arabien und dem Iran. Allen drei Mächten passte freilich ein etwas schwächeres Ägypten besser in den Kram. Ein Bündnis aus Muslimbrüdern, Salafisten und ägyptischem Militär ist aber sehr stark. Die Türkei wird Abstriche an ihren hegemonialen Ambitionen machen müssen. Für das saudische Königshaus könnte der Wandel in Kairo bedrohliche Ausmaße annehmen. Der Iran wird ein- bzw. ausgegrenzt, was seine Wichtigtuerei in Sachen Aggressivität gegen Israel eher anstiften könnte.
Ägyptens Stärke wird relativiert durch seine ökonomische Schwäche. Ägyptens wirtschaftliche Aussichten sind desaströs, gleichzeitig erwartet das scheinbar „siegreiche“ Volk eine Verbesserung seiner Lebenslage. Da Mursi dies nicht wird bieten können, bleibt nur der Weg der Aggression nach außen. Zwar verbessert ein Krieg mit den Nachbarn nicht gerade die ökonomische Entwicklungsperspektive, befriedet aber die innenpolitische Situation ungemein. Für derartige Abenteuer steht – keine Sorge! – Israel freilich nicht zur Verfügung. Dafür ist der Judenstaat einfach militärisch zu stark. Abgesehen davon, dass auf Dauer nur eine ökonomische Kooperation mit Israel nachhaltige Entwicklungsperspektiven böte.
Insofern steht zu befürchten, dass Mursi sich eher auf militärische Abenteuer im Sudan oder, was ich für wahrscheinlicher halte, in Libyen einlassen könnte. Wie auch immer: Ägypten wird die nächsten Jahre nicht aus der ersten Reihe der Weltnachrichten verschwinden. Und: der „arabische Frühling“, wenn denn seine sympathisierenden Beobachter ihn noch so nennen mögen, ist keineswegs beendet. Allenfalls also semantisch. Der revolutionäre Prozess in der arabischen Welt dauert an und wird mit dem Sieg des sunnitischen Fundamentalismus wieder an Fahrt gewinnen. Es wird gewiss kein neues „Kalifat“ geben, doch über kurz oder lang werden die Kräfte der Muslimbrüder eine dominierende einheitliche Kraft ganz Arabiens darstellen.

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