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Ägypten auf dem Weg in den Gottesstaat, zurück in die Militärdiktatur oder in ein Blutbad – Über den „zivilen“ Putsch in Kairo

 

Deutsch: Nordostseite der Chephren-Pyramide auf dem Giseh-Plateau bei Kairo, Ägypten Français : Pyramide de Khéphren à Guizeh (Photo credit: Wikipedia)

Gestern hat Ägyptens Präsident Mursi völlig überraschend den Armeekommandeur und Verteidigungsminister Tantawi sowie den Generalstabschef Anan entlassen. „Damit spitzt sich“, schreibt die Frankfurter Rundschau, „ der Kampf zwischen dem islamistischen Präsidenten und dem Militär zu“. In den ARD-Tagesthemen hat Tom Burow gestern Abend den Leiter des Kairoer Studios, Jörg Armbruster, gefragt, ob es sich dabei um einen „Schritt in Richtung volle Demokratie oder Schritt in Richtung eines Staates der Muslimbrüder (handelt). Welche Lesart stimmt denn?“

Armbrusters Antwort fiel eindeutig aus. Und ebenfalls überraschend; denn Armbruster hat sich in den anderthalb Jahren des „arabischen Frühlings“ stets klar gegen die alten Militärregime und für die Revolutionäre positioniert. Gestern Abend sagte er: „Nun, ich denke, Mursi würde antworten auf die Frage: `Natürlich alles wegen der Demokratie´. Tatsächlich glaube ich aber will er aus Ägypten einen Staat nach den Vorstellungen der Muslimbrüder machen – erzkonservativ, religiös bestimmt, islamistisch geprägt, antiliberal. So ungefähr, glaube ich, soll Ägypten werden nach den Vorstellungen von Mursi und seiner Muslimbruderschaft.“

Auf Burows zweite und letzte Frage – es war eine Kurzausgabe der Tagesthemen wegen Olympia – teilte Armbruster die allgemeine Einschätzung, dass dieser „Putsch der Muslimbrüder“ (FR) „aller Wahrscheinlichkeit nach in Absprache mit Teilen des Militärrates“ (Telepolis) erfolgt sei. Dies schreiben alle, ist auch sehr naheliegend, weil kein Präsident einfach überraschend die Militärführung in die Wüste schicken kann; allerdings: „Teile des Militärrates“ sind nicht der komplette Militärrat. Kein Außenstehender, erst recht kein ausländischer Journalist kann wissen, wie es um die Kräfteverhältnisse innerhalb der Junta wirklich bestellt ist.

Deshalb trifft die Financial Times den Nagel auf den Kopf, wenn sie ihrem Bericht die Überschrift gibt: „Ägyptens Präsident geht aufs Ganze“. Zumal Mursi neben der Entlassung des Armeekommandeurs und des Generalstabschefs auch noch Teile der ägyptischen Übergangsverfassung für abgeschafft erklärt hat. „Dies geschieht im Rahmen der Vollendung der Revolution“, sagte sein Sprecher ohne jede weitere Erklärung (FTD). „Der Schock in Ägypten war am Sonntag so groß, dass politische Experten zunächst nicht abzuschätzen wagten, welche Konsequenzen Mursis Handeln haben wird“, schreibt die FR.

Und weiter: „Seit der Amtsübernahme hatte Mursi eher den Eindruck vermittelt, er würde sich mit der Armee arrangieren. Es hatte mehrere gemeinsame Auftritte mit Tantawi gegeben. Sein Rundumschlag gegen die Generäle … zeigt, dass er bisher falsch eingeschätzt wurde.“ Tantawi, der gestern entlassene Chef des Obersten Militärrates, hat sich bislang noch nicht geäußert, so dass unklar ist, wie die Armee reagieren wird. Dies meint auch der Focus, der den „Machtkampf in Ägypten“ beschreibt mit dem Satz „Ägyptens islamistischer Präsident Mohammed Mursi greift nach der ganzen Macht“.

Desweiteren hat Mursi gestern einen Vizepräsidenten ernannt, und zwar Mahmud Mohamed Mekki, einen sunnitischen Muslim. Im Wahlkampf hatte er versprochen, zwei Vizepräsidenten zu berufen, nämlich eine Frau und einen koptischen Christen. Davon ist mittlerweile keine Rede mehr. Begleitet wurde der „zivile“ Putsch der Muslimbrüder durch eine Massendemonstration auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Mehrere Tausend Islamisten feierten unter dem Motto „Das Volk unterstützt die Entscheidung des Präsidenten“. Legt man das Wahlergebnis zugrunde, mag dies für etwas mehr als 50 % des ägyptischen Volkes tatsächlich zutreffen.

Die Lage in Ägypten ist gegenwärtig völlig unklar. Die Machtergreifung des demokratisch gewählten Präsidenten kam gestern so überraschend, dass kein Experte sich zutraut, eine Prognose abzugeben. Ich bin nicht einmal ein Experte, könnte also nur spekulieren. Ich vermute, dass von der demokratisch-revolutionären Tahrir-Platz-Bewegung keine nennenswerte Gegenwehr zu erwarten ist, da Widerstand gegen die Muslimbrüder die Revolutionäre objektiv an die Seite der Militärjunta, mithin des alten Regimes treiben würde. Die entscheidende Frage scheint mir zu sein, wieweit es den Islamisten gelungen ist, die Armee zu unterwandern.

Ägypten hat – dies hat sich schon bei der Präsidentenwahl gezeigt – einstweilen nur die Wahl zwischen Militärdiktatur und Gottesstaat. Von der m.E. entscheidenden Frage, wie gut die Muslimbrüder ihren „zivilen“ Putsch im Militär absichern konnten, hängt es ab, ob das Land schnurstracks in einen islamistischen Gottesstaat transformiert wird oder aber in einen langwierigen Bürgerkrieg abgleitet. Ich weiß es nicht, und ich glaube, zur Stunde weiß es niemand. Die USA, die das ägyptische Militär finanzieren, haben wiederholt deutlich gemacht, dass sie weder Militärdiktatur noch einen Gottesstaat wünschen.

An einem langwierigen Bürgerkrieg, sprich eine Aufspaltung der Armee in traditionelle und islamistische Kräfte, die sich gegenseitig militärisch bekämpfen, dürften die Amerikaner erst recht nicht interessiert sein. Nochmal: ohne Informationen über die Kräfteverhältnisse innerhalb der Militärführung ist eine halbwegs seriöse Prognose kaum möglich. Es kann sein, dass sich Gaza in Ägypten wiederholt, dass die Muslimbrüder demokratisch legitimiert ihre Terrorherrschaft errichten. Ich vermute allerdings eher, dass die relative Stärke der alten Junta die Islamisten angesichts einer vermeintlichen Gunst des Augenblicks in diesen verfrühten Coup getrieben hat.

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