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Tempo-30-Diskussion: Eine kleine Nachlässigkeit

Eine kleine Nachlässigkeit meinerseits, keine Frage. Das gebe ich ja zu. Das liegt jetzt aber auch schon etliche Jahre zurück. Also Schwamm drüber. Und meine Tochter … – na ja, die war da doch auch noch sehr klein. Also. Was soll´s?!

Ich erzähle Ihnen diese Geschichte trotzdem. Das war hier in Bergheim an der Mühle. Gegenüber der Tempel, der macht jedes Jahr das Folkfest. Sie dürfen sich das jetzt aber nicht so vorstellen, als sei dort auch dann Action, wenn kein Folkfest ist. Ich meine jetzt: straßenverkehrsmäßig gesehen.

Ein absolut ruhiges Wohngebiet, schmale Straßen, natürlich Tempo 30, und wenn ich sage, die Füchse sagen sich dort „Gute Nacht“, dann meine ich dies auch genau so. Das machen sie natürlich nachts, die Füchse. Diese Geschichte ereignete sich aber nachmittags. Werktags nachmittags, so gegen drei.

Meine Tochter hatte irgendetwas im Tempel. Ich brachte sie dorthin. Mit dem Auto natürlich; ich bin doch gehbehindert. Und nun diese kleine Nachlässigkeit: ich ließ sie auf der anderen Straßenseite aus dem Auto. Also nicht, wie es besser gewesen wäre, auf der Tempelseite, sondern auf der Mühlenseite.

Wenn sie wüssten, wie es dort aussieht … – Sie würden meinen, ich langweile Sie. Idylle pur. Es standen nicht einmal Freundinnen vor dem Tempel. Meine Tochter – so machen das Grundschulkinder – flitzte einfach mal rüber. Ich bin dem türkischen Taxifahrer heute noch unendlich dankbar.

Reaktionsschnell stieg er voll in die Eisen. Sonst wäre es das wohl gewesen. Klasse reagiert. Der gute Mann tuckerte dort auch höchstens mit 30 so lang. Aber klar: so ein großer Daimler und ein kleines Kind. Da sind 30 eine ganze Menge. In den meisten Fällen sind auch 30 schon zu viel.

 

Die Kinder seien heutzutage vom Straßenverkehr „entwöhnt“, lese ich. Da ist etwas dran. Wir früher! Im Grundschulalter einfach mal los auf die Piste, die Welt entdecken, welch ein Abenteuer! Okay, damals war auf den Straßen auch noch nicht so viel los wie heute. Dass dennoch deutlich mehr von „unseren Leuten“ ins Gras beißen mussten … – wer weiß das schon?!

Vom Straßenverkehr „entwöhnt“ – wie stellen die sich das denn eigentlich vor, diese Schlaumeier?! Hätte ich etwa meine Tochter allein über die viel befahrene Jägerstraße pilgern lassen sollen, damit sie sich auf ihrem Weg zum Tempel ein bisschen an die heutigen Straßenverhältnisse gewöhnen kann?

Vor zwei Jahren wollte Cansu morgens auf ihrem Weg zur Schule die Jägerstraße überqueren. Genau der Stelle, wo dieses Wohngebiet mit dem Tempel und der Mühle liegt, gibt es sogar eine Bedarfsampel. Kennen Sie. Man drückt auf den Knopf, und schon bald kommt Grün. Cansu hatte genau dies gemacht.

Straßenschild Tempo-30-Zone in Hamburg-Wandsbek (Photo credit: Wikipedia)

Die 12-Jährige hatte eigentlich überhaupt fast alles richtig gemacht. Allerdings hatte sie – ein Fehler mit entsetzlichen Folgen – keinen Fahrradhelm getragen. Cansu ist tot. Der senile Autofahrer hatte sein Rotlicht übersehen. Die Ampel steht ja „erst“ auf der Jägerstraße; auf die muss erst einmal eingefädelt werden.

An und für sich kein allzu großes Problem, doch im morgendlichen Berufsverkehr und dann mit über 80 Jahren … Die Verkehrssituation war für den Fahrer zu komplex. Und völlig klar: auch eine Tempo-30-Zone hätte Cansus´ Leben nicht gerettet. Die Anwohner hatten sie, wie man in diesen Fällen zu sagen pflegt, „reflexhaft“ gefordert.

Man will ja irgendetwas tun. Und tatsächlich: heute gilt auf der Jägerstraße über weite Strecken Tempo 30. Es ist, so weit ich sehe, auch niemand mehr zu Schaden gekommen. Und doch: es ist Augenwischerei zur Beruhigung des Gewissens.

Cansu war noch nicht für tot erklärt, da war schon völlig klar, dass in diesem Fall allein die regelmäßige Gesundheitsprüfung für ältere Kraftfahrer eventuell hätte das Schlimmste verhindern können. Aber setzen sie die erst einmal durch in einer Demokratie! Dagegen ist selbst Tempo 30 ein Klacks.

 

Am letzten Freitag – nicht morgens, sondern abends um halb acht -wollte ein 10-jähriger Junge die Mülheimer Straße in Neudorf/Duissern mit seinem Tretroller überqueren. Für Ortsfremde: freitags am frühen Abend ist auf der Mülheimer Straße – salopp formuliert – die Hölle los. Sie ist eine der wichtigsten Verkehrsadern Duisburgs.

Der Junge machte sich auf, die Straße zu überqueren – bei Grün, versteht sich. Doch als er dann so etwa die Hälfte geschafft hatte, sprang die Ampel wieder auf Rot. So geht das. Vielleicht hatte der Kleine sogar sehr umsichtig das dichte Verkehrstreiben im Auge; allein: dass jetzt Rot ist, hatte er nicht mitbekommen.

Er hat den Unfall schwer verletzt überlebt. Der Rettungswagen war schnell da und hatte ihn in die Klinik gebracht. Freitags abends und schon halb acht – da haben es die Leute eilig. Und wenn sie dann auch noch Grün haben … – kein Tempo 30 dieser Welt hätte den Jungen auf dem Roller schonen können.

Überhaupt: wollen Sie denn tatsächlich auf der ganzen Mülheimer Straße Tempo 30 einführen?! Eine Studie des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) hat jetzt ergeben, dass die großen Städte im Ruhrgebiet wie Duisburg, Essen, Oberhausen und Mülheim für Kinder hochgefährlich sind. Kinder „verunglücken als Verkehrsteilnehmer hier viel häufiger als im Bundesdurchschnitt.“

Deshalb will Rot-Grün jetzt vor allem Kinder im Straßenverkehr schützen. Stichwort: „Tempo 30 in Städten“. „Im Ruhrgebiet gibt es noch immer zu wenig Tempo 30-Zonen“, sagt die Verkehrspsychologin Maria Limbourg von der Uni Duisburg-Essen. Alle drei in diesem Text angeführten Beispiele konnten jedoch für die Sinnhaftigkeit von Tempo-30-Zonen nichts hergeben.

Ein paar ganz Schlaue halten angesichts der VCD-Untersuchung den Zeitpunkt für gekommen, Winston Churchill zu zitieren, der keiner Statistik glauben wollte, die er nicht selbst gefälscht hatte. Alles Unfug, alles Blabla. Der Fall ist sonnenklar: erstens sind die Zahlen eindeutig, und zweitens kann man sich ohnehin denken, dass die Überlebenschancen von Kindern im innerstädtischen Verkehr bei Tempo 30 günstiger sind als bei Tempo 50.

 

WAZ-Redakteur Dietmar Seher stellt in seinem Kommentar dazu ganz schlicht fest: „Es gibt Themen, die den Menschen ganz nahe gehen und die in ihnen trotzdem die widersprüchlichsten Gefühle auslösen können: Als Autofahrer möchten sie ungehindert Gas geben. Als Eltern sind sie besorgt, wie sicher ihre Kinder auf dem Schulweg sind.“

Es ist wirklich so einfach. Und wenn die „widersprüchlichsten Gefühle“ schon bei Autofahrern ausgelöst werden, die (noch) kleine Kinder haben, wie mag es dann bei denen aussehen, deren Kinder schon groß sind bzw. die keine Kinder haben? Tempo 30 ist ein Verlierer-Thema. Deshalb ist die Bundes-SPD sofort, als da aus NRW etwas kam, reaktionsschnell voll in die Eisen gestiegen.

Man kann es ihr nicht verdenken. Zumal CDU, CSU und FDP sich genauso schnell schon warmgelaufen hatten. Hocherfreut, von der Null-Bilanz ihrer Regierung ablenken zu können. Als Freiheitskämpfer für die mündigen Bürger. Freiheit bedeutet: es gibt kein Leben ohne Restrisiko. Das Restrisiko für die Ruhrgebietskinder, unter die Räder zu kommen, ist halt einfach nur etwas größer. Je restriskanter, desto freier.

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