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Krieg in Afghanistan: Über Pisser und griechische Mythologie, Killer und Massenmörder

English: Sign in Canada: Don't piss into the w...

Image via Wikipedia

Haben Sie das mitbekommen? Das war doch wohl ein echt starkes Stück, oder?! Aber sicher haben Sie das mitgekriegt. Es wurde ja auch in allen Medien breitgetreten, dieses Video von 39 Sekunden. US-Marines pinkeln auf tote Taliban, möglicherweise frisch von ihnen ins Jenseits befördert. Dagegen ist soweit nichts zu sagen, also gegen das Ins-Jenseits-Befördern. Zu diesem Zweck halten sich die Ledernacken schließlich in Afghanistan auf. Aber dieses Auf-die-Leichen-Pinkeln … – also wirklich! Das ist doch wohl die Höhe!

„Na, wie ist die Dusche?“, fragt der Eine; „einen schönen Tag noch“ wünscht der Andere. Da können Sie mal sehen, wie kulturlos diese Amis sind. Soldatische Tugenden – Fehlanzeige! Nicht, dass unsere Jungs jetzt dieses ehrlose Verhalten der Marines ausbaden müssen! Die Taliban jedenfalls sind stocksauer. Zu Recht, wie mir scheint. So etwas macht man doch nicht! Auf Leichen pissen! Na, wo leben wir denn?! Das ist echt gegen alle Regeln. Kein Respekt. Die Regel ist: Töten – ja sicher. Danach draufpissen – um Himmels willen!

Leichenschändung nennt man so etwas. Der afghanische Mann auf der Straße hat auch schon in die Fernsehmikrofone gesprochen, dass diese Schandtat eine Beleidigung aller Muslime darstelle. Also auch derjenigen, nach deren Islamverständnis ein muslimischer Mann nach dem Märtyrertod im Paradies von 72 Jungfrauen, die fortan sein Eigen sind, empfangen wird. Aber auch dem ist es nicht egal, dass, während er im Jenseits von den 72 Mädels gebührend empfangen wird, im Diesseits seine ungläubigen Killer auf seine sterblichen Überreste urinieren.

Die Afghanen sind halt sehr fromm. Doch auch Unsereins sagt sich: auf Leichen Pinkeln, brauchen wir gar nicht groß drüber zu diskutieren, geht überhaupt nicht. Absolut kulturlos, so etwas. Blöde Amis! Andererseits hat so ein Umgang mit dem besiegten Gegner durchaus Tradition. So hatte Achilles – Sie wissen schon: der mit der empfindsamen Ferse – seinem Freund Patroklos versprochen, “Hektor dahergeschleift den zerfleischenden Hunden zu geben“. Hektor war nämlich nicht ganz unschuldig an Patroklos´ Ableben.

Dies wiederum hatte Achilles dem Hektor persönlich übelgenommen. Daher das Versprechen, was wir heute noch aus Western oder Gangsterfilmen kennen – nur halt ohne Leichenschändung, nur Totmachen. Wie auch immer: Achilles war anders gestrickt, beließ es folglich nicht dabei, Hektor totzumachen, sondern schleifte den toten Hektor dreimal um Patroklos‘ Grab, „im Staube gestreckt auf sein Antlitz“. Und nochmal und nochmal … – Achilles schleifte die Leiche zwölf Tage lang. Das war natürlich erstens Unsinn, und zweitens immer noch nicht so schlimm wie Vollpinkeln.

Nun ja. Zwei der vier Pisser sind inzwischen identifiziert. Die Anderen kommen auch noch dran. Die Unholde erwartet eine rasche und harte Bestrafung. Eine sehr harte Bestrafung, wie die Außenministerin und der Verteidigungsminister bereits in Aussicht gestellt haben. Fürs Urinieren, versteht sich. Nicht fürs Töten; denn das war ja der Job der Marines. Töten. Nicht aber auf Leichen pinkeln. So etwas wird bestraft, heute wie damals. Dafür zuständig war damals Apollon; das war der Gott für alle möglichen schönen Sachen, aber er war eben auch der Gott der Bogenschützen.

Strafe muss sein, und Apollon, der auch der Gott der Mäßigung war, gefiel Achilles´ Schändung von Hektors Leiche ganz und gar nicht. Deshalb lenkte Apollon – jetzt wieder in seiner Funktion als Gott der Bogenschützen – einen Pfeil des Paris in die Ferse des Achilles. Ätsch! Wir lernen daraus: Leichen schänden tut man nicht. Dies nur mal kurz zur mythologischen Einordnung des unglaublichen Vergehens dieser vier Ledernacken. Ansonsten hatten Sie das ja alles mitbekommen; es war ja auch kaum zu überhören, zu überlesen oder zu übersehen. Ein echt starkes Stück.

 

Aber – jetzt einmal etwas ganz Anderes – haben Sie eigentlich auch mitgekriegt, dass unsere Jungs, also unsere Bundeswehr … – nein, nein, keine Sorge: niemand hat irgendwo hingepinkelt, wohin es sich nicht gehört hätte. Ja, da hatten vor geraumer Zeit mal welche mit Totenköpfen und so posiert. Das war natürlich auch Blödsinn. Da hatten sie auch Ärger für gekriegt; aber immerhin: uriniert hatten sie nicht! Nein, ich meine doch etwas ganz Anderes. Ich meine diese Ereignisse in Kunduz im September 2009. Ja gut, diese Geschichte hatten Sie auch mitbekommen. Langsam …

Unangenehme Geschichte, keine Frage. Sie lief im Grunde genauso ab, wie sie der Spiegel im Dezember 2009 aufgedeckt oder wie ich siekommentiert hatte. Also, eine olle Kamelle, wie wir so sagen. Neu, na gut, sagen wir mal: relativ neu ist allerdings der Umstand, dass über selbige unangenehme Geschichte im Plenum des Deutschen Bundestages debattiert wurde. Und zwar am 1. Dezember 2011. Das ist jetzt zwar auch schon gut sechs Wochen her; aber jetzt frage ich Sie mal: hatten Sie das mitbekommen? Dass am 1. Dezember 2011 über die Ereignisse in Kunduz in der Nacht vom 3. auf den 4. September 2009 im Deutschen Bundestag debattiert wurde? Ich nämlich nicht.

Das kann freilich an mir gelegen haben, obwohl: eigentlich verfolge ich die Nachrichten immer recht gründlich. Nun ja, Fehler können passieren. Und doch bin ich mir ziemlich sicher, dass in den deutschen Medien wesentlich ausführlicher über die pissenden US-Marines berichtet worden ist als über „Unsere Bewertung der Ereignisse in Kunduz im September 2009“, wie ein Artikel im Informationsdienst der SPD-Bundestagsfraktion überschrieben ist. Das Blatt nennt sich „fraktion intern“, weil es über vermeintliche Interna aus der Bundestagsfraktion berichtet, nicht etwa, weil die Informationen sonderlich intern wären.

„Unsere Bewertung der Ereignisse in Kunduz im September 2009“ finden Sie im Internet hier. Wobei der Terminus „Ereignisse“ nichts weiter ist als ein Euphemismus für den „folgenschwersten militärischen Einsatz in der Geschichte der Bundeswehr“, der inzwischen in den Sitzungen des Bundestagsuntersuchungsausschusses „weitgehend aufgeklärt“ wurde. Ja, es gibt diesen Bundestagsuntersuchungsausschuss! Sie finden, dass recht wenig über ihn berichtet wird? Mag sein; aber Sie müssen bedenken: in der Umgebung von Kunduz hatte niemand Pippi gemacht.

Es ereignete sich vielmehr nur Folgendes; ich zitiere aus „fraktion intern“: „Nach der Beweisaufnahme des Ausschusses ist davon auszugehen, dass ein ziviler Lastwagenfahrer, mindestens 22 Kinder unter 15 Jahren und mindestens 60 weitere Zivilisten aus umliegenden Dörfern durch den Luftangriff getötet worden sind. Die Legende eines defensiven Luftschlags, der nur dazu gedient habe, einen unmittelbar drohenden Angriff mit zwei Tanklastern als `rollende Bomben´ auf das Bundeswehrlager in Kunduz zu rechtfertigen, ist damit vom Tisch.“

Die SPD-Fraktion legt Wert auf die Feststellung, dass „diese Verstöße auch von Seiten der (schwarz-gelben) Mehrheit nicht bestritten (wurden), zumal sie durch die NATO eindeutig festgestellt wurden“. Deshalb stelle sich die Frage, ob sich die Bundeswehr damit „vom Verbot gezielter Tötungen entfernt hat“, was m.E. an der Sache vorbei geht. Erstens nehmen Bundeswehreinheiten – bspw. im Rahmen des Partnering – ohnehin an der Jagd auf und der Liquidierung von Taliban-Kämpfern teil, und zweitens trifft die Beschreibung „gezieltes Töten“ den Tatbestand eines Massakers an der Zivilbevölkerung nicht.

Die sozialdemokratischen Verteidigungspolitiker sind in ihrer „Bewertung der Ereignisse“ auffällig darum bemüht, die Bundeswehr – man siehe mir diese Metapher nach – aus der Schusslinie zu nehmen und stattdessen die Schuld („politische Verantwortung“) der CDU bzw. dem damaligen Minister zuzuschieben. Die Bundesregierung insgesamt war im September 2009 noch eine Große Koalition, und die Militärs scheinen ohnehin sakrosankt zu sein. Allerdings werden „Defizite im Verständnis der völkerrechtlichen Rahmenbedingungen“ konstatiert.

Verständnisdefizite, die mindestens 78 Zivilisten das Leben gekostet hatten. Verständnisdefizite, die Oberst Klein und seinen „Roten Baron“ dazu verleiteten, die amerikanischen Bomber zu fünf (!) Luftschlägen zu veranlassen – wohl wissend, dass die Tankwagen in umgekehrter Richtung feststeckten und dass sie von Kindern und anderen Zivilisten umzingelt waren. Verständnisdefizite, die ihnen ein beharrliches Drängen der US-Piloten ermöglichten, nach anfänglicher Weigerung schließlich doch immerhin zwei Bomben auf die Menschenmenge zu werfen.

Diese „Defizite im Verständnis der völkerrechtlichen Rahmenbedingungen“ seien – so die SPD-Fraktion – „politisch vom damaligen Bundesminister der Verteidigung Dr. Jung (CDU) zu verantworten“. Beinah entschuldigend wird eingeräumt, dass „die konsequente Aufarbeitung des Vorgangs von Kunduz in der Nacht vom 3. auf den 4. September 2009 … für die beteiligten Soldaten an einigen Stellen schmerzlich“ sei. Sie ziele jedoch „keineswegs darauf ab, die beteiligten Soldaten nachträglich bloßzustellen, anzuprangern oder öffentlich zu verurteilen“. Warum auch? Hatte etwa irgendein deutscher Soldat gepinkelt? Aha!

„Es ging allein darum, den Vorgang so, wie er sich nach der intensiven Beweisaufnahme des Ausschusses darstellt, offen zu beschreiben“, beteuern die SPD-Verteidigungspolitiker. Ob Sie damit Gnade finden werden in den Augen der Komissköppe, die es völlig in Ordnung finden, den Tod von an die Hundert Unschuldigen billigend in Kauf zu nehmen, wenn man gleichzeitig auch viele Taliban ins Jenseits befördern kann. Dass es sich um einen „defensiven Luftschlag, der nur dazu gedient habe, einen unmittelbar drohenden Angriff mit zwei Tanklastern als `rollende Bomben´ auf das Bundeswehrlager in Kunduz zu rechtfertigen“, ist eine „Legende“, wie die SPD die Ergebnisse des Bundestagsuntersuchungsausschusses zusammenfasst.

Sie verzichtet darauf zu schlussfolgern, dass es sich folglich um einenoffensiven Luftschlag gehandelt haben muss, den Oberst Klein allein deshalb gegen den Willen der Amerikaner durchgezogen hatte, weil er sich die Gelegenheit, viele Taliban zu töten, auf keinen Fall entgehen lassen wollte. Auch nicht für den Fall, dass „mindestens 22 Kinder unter 15 Jahren und mindestens 60 weitere Zivilisten aus umliegenden Dörfern durch den Luftangriff getötet“ werden. Am 07.12.2009 schrieb ich:

„Es besteht der dringende Verdacht, dass ein oder mehrere Deutsche ein Massaker zu verantworten haben. Dass deutsche Soldaten die Bombardierung von Zivilisten in Auftrag gegeben haben. Wie sollte es da denkbar sein, dass die Generalbundesanwältin sich für unzuständig erklärt?“ Frau Harms ist mittlerweile in den Altersruhestand gegangen; zuvor hatte sie bewusst auf ein Verfahren gegen Oberst Klein und seinen Roten Baron verzichtet. Der Verdacht, dass einer von ihnen oder beide für ein Massaker an der Zivilbevölkerung verantwortlich ist / sind, hat sich währenddessen im Deutschen Bundestag fast zur Gewissheit erhärtet.

Weder Oberst Klein noch der Rote Baron müssen mit einer Bestrafung rechnen. Ganz anders als die vier urinierenden US-Marines. Die Medien werden uns auf dem Laufenden halten, wie die US-Militärjustiz mit aller gebotenen Härte die vier Pisser für ihre Schandtat aburteilen wird. Am 28. Januar 2011 hatte der Bundestag das Mandat für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan um ein weiteres Jahr verlängert. Mit 419 von 578 abgegebenen Stimmen. Die nächste namentliche Abstimmung findet heute in zehn Tagen, am 26. Januar 2012, statt.

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