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Gedanken: Überlebt und glücklich? Opfer der Loveparade 2010

Wenn man über die Loveparade spricht, dann stehen häufig die 21 Todesopfer und ihre Angehörigen und Freunde im Mittelpunkt.

Nur allzu verständlich, denn der Schrecken, den der Tod dieser jungen Leute verbreitet, die Vorstellung, dass es das eigene Kind gewesen sein könnte, das nie wieder nach Hause kommen wird, ist nur zu deutlich nachzuvollziehen. So ziemlich jeder, der ein Herz hat, leidet mit den Familien, erahnt ihren Schmerz und macht sich Gedanken, wie das Leben dieser Familien weiter gehen kann.
Sie verdienen unser aller Einsatz und Mitgefühl. Auch, wenn es ihnen nicht wirklich hilft, so hoffen wir alle doch darauf, dass sie spüren, dass man bei ihnen ist und sie nicht allein sind.

Aber sie sind bei Weitem nicht die einzigen, die auch heute, fast ein Jahr nach der unvorstellbaren Katastrophe immer noch darunter leiden.

Eine weitaus größere Gruppe ist z.B. die der Verletzten und Traumatisierten.
Da gibt es eine junge Frau;  gerade 31 Jahre alt, Witwe und alleinerziehende Mutter,  die nichts anderes wollte, als einen Tag lang feiern und Freude haben. Doch anstatt Spaß und schönen Erinnerungen plagen sie heute Schmerzen und Ängste.
Eine von denen, die auch mitten drin war in diesem unvorstellbaren Knäuel aus Menschen. Die man mehr tot als lebendig  heraus ziehen konnte.
Sie ist gerettet, ja.
Aber welches Leben wartet auf sie?
Nach Krankenhausaufenthalt und Operationen mühsames Neuerlernen des Laufens. Schmerzen. Ständig. Einschränkungen. Immer noch. Und nicht nur im verletzten Bein. Durch Fehlbelastung bis zur Hüfte und in den Rücken hinein. Dazu schwere Migräneanfälle – immer wieder. In der Summe so eingeschränkt, dass sie vermutlich nie wieder arbeiten kann und Frührente bezieht.
Dazu ihre Platzangst. Und Panikattacken; immer wieder.
Das System fängt sie auf; ja. Große Sprünge sind für sie und ihr Kind aber nicht mehr drin. Und ein “normales Leben” auch nicht.
Das fängt damit an, dass es ihr schwer fällt, die Hausarbeit zu erledigen. Gerade Bügeln eine Tortour. Fenster putzen beinahe unmöglich, da sie mit ihrem verletzten Knie keinen Halt findet. Da bleibt nur, Andere um Hilfe zu bitten – und das fällt schwer.
Aber auch so “einfache” Dinge wie einkaufen gehen stellen jedes Mal eine Überwindung dar. Wie voll ist es im Geschäft? Womöglich Schlange stehen an der Kasse.
Kleidung für das Kind kaufen? Mit etwas Glück findet sie online etwas. Ansonsten geht es nur in kleinen, teuren Fachgeschäften. Ein großes Kaufhaus mit seinen Menschenmassen unmöglich!
Bus oder Zug fahren geht auch nicht, Platzangst. Deshalb hat sie sich von den ersten geleisteten Entschädigungszahlungen einen Roller gekauft. Damit sie überhaupt mobil ist; auch mal mit ihrem Kind zu einem Arzt fahren kann.
Einmal Urlaub mit dem Kind; ein großer Traum. Wissend, dass auch hier schier unüberwindbar erscheinende Hürde auf sie warten. Vielleicht, wenn eines Tages die Versicherungen gezahlt haben………und wenn es ihre Gesundheit bis dahin zulässt.
Aber daran arbeitet sie. Jeden Tag erkämpft sie sich oft Millimeter für Millimeter ein Stück “normales” Leben zurück. Und jeder noch so kleine Schritt ist ein Erfolg auf dem langen, steinigen Weg.

Es gibt auch Menschen, die gar nicht unmttelbar betroffen sind von dem Unglück; gar nicht selbst vor Ort waren, aber trotzdem unter den Folgen leiden.
Wie die junge Frau, die ihre angehende Schwägerin verlor an jenem Tag.
Ihr Kontakt war nicht sehr eng und man könnte meinen, dass dann auch die Trauer nicht so groß sein kann.
Aber über der gesamten Familie liegt ein Schatten. Nicht nur über denen, die ihr Kind, ihre Lebensgefährtin verloren haben. Auch über denen, die sie nur am Rande kannten und sich jetzt Vorwürfe machen, dass man nicht die Zeit gefunden hat, um sich näher kennen zu lernen.
Vielleicht aus diesem Gefühl heraus entschießt sich diese junge Frau, alles in ihrer Macht stehende zu tun, um wenigstens für eine würdige Gedenkstätte am Unglücksort zu kämpfen.
So schließt sie sich einer Gruppe von Menschen an, die genau dieses Ziel verfolgen, nimmt an Aktionen und Demostrationen teil und gestalltet einen provisorische Gedenkstätte mit.
Irgedwann wird durch diese Aktivisten ein Verein gegründet und sie ist Gründungsmitglied und bringt sich  mit viel Elan ein…….bis ihr mehr und mehr auffällt, dass nicht alles, was innerhalb dieses Vereins abläuft, menschlich korrekt ist.
Als es für sie unerträglich wird, verlässt sie den Verein.
Seitdem geht es ihr nicht besonders gut.
Zum Einen, weil sie sich immer wieder mit  Angriffen gegen ihre Person konfrontiert wird. Aber vor Allem, weil sie ihre Aufgabe verloren hat. Sie fühlt sich leer; allein und nutzlos.
Diese Arbeit für die Gedenkstätte und das Pflegen der provisorischen Gedenkstätte hat sie ausgefüllt ihr das Gefühl gegeben, etwas Gutes tun zu können. Vielleicht sogar, ein Stück weit wieder gut machen zu können, was zu Lebzeiten der Verstorbenen nur im Ansatz erreicht werden konnte.
Zuerst glaubt sie noch, dass sie es schafft, sich aus diesem Tief zu befreien. Immer immer deutlicher wird, dass sie es allein nicht bewältigen kann; dass auch sie professionelle Hilfe braucht.

Und dann gibt es da noch die große Gruppe der Retter, Ordner und Polizisten, die an diesem furchtbaren Tag plötzlich mitten drin waren in der schlimmsten Katastrophe, die Duisburg seit dem 2. Weltkrieg erleben musste.
Helfen und Retten ist ihr Job, bei Manchem Hauptberuf. Andere wirken hier ehrenamtlich. Aber auf das, was sie an diesem Tag sehen und erleben sollten, waren sie in keinster Weise vorbereitet. Diese Bilder, Gerüche und Erlebnisse werden sie nie mehr verlassen. Sie taten, was sie konnten; kämpften um jedes einzelne Leben. Vielen konnten sie helfen; 21 leider nicht mehr.
Wie leben sie heute, beinahe ein Jahr nach dem Unglück?

Einen von ihnen traf es doppelt schwer. Als der Einsatzbefehl kam, verfiel er in Panik; sein eigener Sohn war auch dort!
Er gehört einer Einheit der Feuerwehr an, die erst in denTunnel gerufen wurde, als das Choas sich schon gelichtet hatte. Er sah die Toten und entsetzt lief er von Opfer zu Opfer um seinen Sohn zu suchen. Für kurze Zeit war er nur Vater; unfähig, seinen Dienst zu tun…………bis die Professionalität zurückkehrte und er half, wo er nur konnte.
Er funktionierte; nicht nur an diesem Tag. Eine ganze Weile schaffte er weiterzumachen, als wäre nichts geschehen. Schließlich war er Profi.
Bis er – Wochen später – nachts schweißgebadet wach wurde. Oder er anfing, zu weinen, als ein Einsatz kam, bei dem ein Jugendlicher verletzt wurde.
Überhaupt – die Tränen. Sie kommen auch heute noch, wenn er über das Geschehene erzählen soll.
Irgendwann konnte er nicht mehr zur Arbeit, wurde krank geschrieben, weil ihn ständig Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit quälten. Sein Arzt schickte ihn zum Psychologen. Der konnte helfen. Zumindest so weit, dass er wieder seinen Dienst tun kann. Aber er froh, dass er bei einer Werksfeuerwehr ist, wo selten dinge passieren, die ihn an den 24.07.2010 erinnern.
Ob er in diesem Jahr am Gedenktag zum Tunnel gehen wird,kann er noch nicht sagen. Er würde gern, aber er hat Angst, dass die Bilder ihn dann wieder einholen.

Drei verschiedene Personengruppen; drei verschiedene Geschichten.
Und doch leiden alle diese Menschen unter den Folgen dieses einen Unglücks; bis heute. Und ob sich das jemals ändern wird, kann heute noch niemand genau sagen. Genauso wenig, wie man die Gruppe der Betroffenen in Zahlen ausdrücken kann. Bei manch einem funktionieren momentan vielleicht nach Schutzmechanismen. Bis eines Tages sich das Trauma seinen Weg bahnt und auch sie nicht mehr weiterleben können, wie bisher.
Fast ein Jahr ist vergangen und noch immer führen Menschen täglich auf´s Neue ihren Kampf. Nicht mehr auf einem Schotterweg, eingeklemmt zwischen Menschenmassen. Sondern mitten unter uns.
Was sie brauchen, ist  nicht unser Mitleid. Was sie brauchen ist Verständnis und Solidarität. Und eine Zukunftsperspektive. Viele können nicht mehr arbeiten; leben am Rande des Existenzminimums. Doch noch immer gibt es keine Schadensersatzleistungen, Renten oder Ausgleichszahlungen. Weil immer noch keiner die Verantwortung übernehmen will und die juristische Aufarbeitung noch Monate, wenn nicht Jahre dauern wird.

*Gastartikel von Angelika Köhler

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