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Loveparade: Interview mit dem Versicherungsmakler Matthias Glesel

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Image by xtranews.de via Flickr

Herr Glesel, Sie sind Versicherungsmakler und gleichzeitiger Geschäftsführer von GMFS GmbH & Co. Compactteam KG in Berlin, unter der Marke EventAssec (www.eventassec.de) vornehmlich tätig im Bereich Veranstaltungshaftpflichtversicherungen. Sie beschäftigen sich mit der Duisburger Loveparade-Katastrophe. 1. Warum ?, 2. Hätte die Loveparade tatsächlich mit 100 Millionen Euro versichert sein müssen und nicht wie geschehen mit 7,5 Millionen ?

Matthias Glesel: Selbstverständlich ist die größte Katastrophe in der Geschichte der deutschen Veranstaltungswirtschaft sowohl persönlich, da ich einige Mitwirkende und auch Teilnehmer kenne, als auch beruflich ein Thema. Als einer von wenigen Spezialisten haben wir in ca. 20 Jahren über 27.000 Events mit ca. 42 Millionen Besuchern versicherungstechnisch begleitet, ohne jemals auch nur entfernt derartige Ereignisse erleben zu müssen.

Ein Verkäufer würde sagen, man kann nie hoch genug versichert sein, gerade im Bereich der Haftpflicht, also gegenüber Dritten verursachter Schäden. Ich halte diese Diskussion für verfehlt, denn der oder die Versicherer müssen erstmal gefunden werden, die überhaupt ein Event wie die Loveparade, die aufgrund des speziellen Charakters dieser Massenveranstaltung in einer ausreichenden Höhe hätten versichern wollen.

Üblich sind Deckungssummen von 3 bis 15 Millionen, aber auch wenn es eine solche Deckungssumme gegeben hätte, wäre der Veranstalter bereit gewesen, den Beitrag dafür zu bezahlen ? Und hätten diese 15 Millionen gereicht, vermutlich nicht.

Eine kleine Preisverleihung in einem Museum kann zu Millionenschäden führen, die grösste Veranstaltung, die jemals in Deutschland stattgefunden hat- die WM-Fanmeile 2006 in Berlin mit knapp 10 Millionen Besuchern- hatte z.B. gar kein nennenswertes Schadenpotential.

Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang Schwandt Makler in Berlin?

Matthias Glesel: Herr Schwandt ist ein langjähriger Kollege, der die Loveparade bereits bei ihrem Begründer Dr. Motte versichert hat und seitdem betreut. Ich bin mir sicher, dass er vorbildlich und fachgerecht, wie ich ihn kenne, seine Arbeit gemacht hat. Auf die tatsächliche Organisation und Ausführung der Veranstaltung haben Versicherer und Versicherungsmakler leider keinen Einfluss. Schließlich geht der Versicherer ja von einer ordnungsgemäßen Genehmigung der Veranstalter aus, für deren Erteilung ja auch eine Versicherungsbestätigung vorzulegen ist.

Daher sind unsere Mitarbeiter auch bei größeren Events vor Ort und dokumentieren die Einhaltung von Sicherheitsauflagen, oder erstellen sogenannte Pflasterprotokolle, die den Zustand einer z.B. öffentlichen Veranstaltungsfläche vor und nach der Veranstaltung festhalten.

Sie sagen, dass die zu Grunde liegende Versicherungssumme in Höhe von 7,5 Millionen Euro innerhalb eines jährlichen Haftpflicht-Rahmenvertrages zwischen dem Veranstalter Lopavent GmbH und dem Haftpflichtversicherer AXA zu Grunde gelegt wurden. Dieser beinhaltet, dass diese Versicherungssumme der Lopavent GmbH auch mehrere

(versicherte) Veranstaltungen pro Jahr ermöglicht (egal ob drei oder Hundert), dass aber maximal nur eine Versicherungssumme von 3 x 7,5 Millionen Euro greifen würde, also maximal 22,5 Millionen Euro, die dann entsprechend aufgeteilt werden würden. Ist demnach die Frage von Relevanz, ob der Veranstalter in diesem Jahr noch andere Veranstaltungen durchgeführt hat ? Und, falls nicht, wäre das für die Opfer und deren Schadenersatz von Belang ?

Matthias Glesel: Das ist im Prinzip richtig, stellt aber keinen Nachteil dar. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass in einem Jahr drei derartige Großschäden auftreten, sollte das tatsächlich eintreten, hätte der Veranstalter ja nach dem zweiten bekannten Schaden die Möglichkeit, sich zusätzlich zu versichern.

Allerdings stellt sich die Frage, ob dieser Veranstalter seinen Job versteht, wenn das so eintreten würde und damit wäre er auch quasi unversicherbar.

Derartige Rahmenverträge, die wir auch für Mehrfachveranstalter oder Eventagenturen verwenden, haben zusätzlich einen wesentlich besseren Versicherungsumfang als die einmaligen Verträge, die nur für eine Veranstaltung abgeschlossen werden.

Wesentliche Erweiterungen, die auf das Tätigkeitsspektrum des Veranstalters abgestimmt sind werden zwischen Makler und Versicherer im Auftrag des Mandanten vereinbart.

Soweit ist dieser Rahmenvertrag eher von Vorteil, auch für die Anspruchsteller.

Was bedeutet es in der Konsequenz, dass die AXA den Schaden bislang nicht bestätigt hat? Etwa wegen der Schuldfrage ?

Matthias Glesel: Ja, denn die schuldrechtliche Verantwortung ist eben noch ungeklärt, auch wenn für mich nicht nur die moralische Verantwortung feststeht.

Daher wird die AXA, wenn überhaupt, ohne Anerkennung einer Rechtspflicht leisten,

bis die Eintrittspflicht feststeht. Und bei erwiesenen Verstößen gegen gesetzliche Vorschriften ist der Versicherer evtl. sogar leistungsfrei.

Aber hat nicht die AXA eine Millionen Euro Soforthilfe zur Verfügung gestellt ? Warum macht sie das, wenn sie das offenbar nicht müsste, für wen ist das Geld bestimmt ?

Matthias Glesel: Dieser Soforthilfefonds hat vor allem den Zweck, seine Leistungsbereitschaft dem Grunde nach zu zeigen und auch Zeit zu gewinnen, um die Ermittlungen zu führen, aber die drängendsten Ansprüche, diese allerdings auf Kulanzbasis und ohne Anerkenntnis einer Haftung – weder dem Grunde noch der Höhe nach – regulieren zu können.

Ein Versicherer kann doch eigentlich nur im Schadensfall zeigen, was seine Werbeaussagen wirklich wert sind.

Die AXA Versicherung AG hat im Jahr 2009 Schäden über 1,628 Milliarden EUR bezahlt,

das ist also auch eine Art von Werbung, denn die AXA kann ja nichts für die Schadenverursachung.

Einigen sich die Stadt Duisburg und die AXA gütig, oder ist es noch nicht so weit ? Man hört auch vereinzelt, dass die Streitereien bereits voll im Gange sind.

Matthias Glesel: Die AXA ist ja insofern nur der Haftpflichtversicherer des Veranstalters.

Jede „Verhandlung“ ist also als Verhandlung zwischen Veranstalter und Stadt zu verstehen.

Duisburg steht aber nicht als alleiniger oder überhaupt Anspruchsteller da, sondern die AXA hat bereits mit diversen Anspruchstellern bzw. deren Anwälten zu tun.

Für eine Einigung zwischen Stadt und AXA sehe ich keine direkte Veranlassung. Hier geht es wohl eher um gegenseitige Schuldzuweisungen, um die Anspruchsteller an den anderen zu verweisen. Da eben für die AXA noch keine Veranlassung besteht, Eintrittspflicht dem Grunde nach zu erklären, bis ihr bzw. bis Lopavent gerichtlich die Haftung zugesprochen wird wären alle Vergleichsergebnisse vorab immer mit einem Zusatz in etwa mit folgendem Wortlaut versehen: „Vergleich ohne Anerkennung einer Rechtspflicht“. Das ist auch durchaus übliches Verfahren.

Welche Kosten wird die Versicherung nicht übernehmen, kennen Sie die entsprechenden Vertragsdetails zwischen der AXA und dem Veranstalter ?

Matthias Glesel: Nein, diese sind mir nicht bekannt, ich kenne zwar die grundlegenden Bedingungen derartiger Verträge der AXA, aber nicht die hier individuell vereinbarten Klauseln und Bedingungen, die in jedem Falle besser sein werden, als die Standardbedingungen. Wie dargestellt, werden die Heil- und Behandlungskosten über die jeweiligen Abkommen mit den Sozialversicherungsträgern geregelt. Alle Träger, die mit der AXA kein derartiges Abkommen unterhalten und jegliche weiteren zivilrechtlichen Ansprüche werden nur im Vergleichswege bzw. nach Anerkennung einer Eintrittspflicht, also dem Beweis des Veranstalterverschuldens zur Regulierung kommen und das kann einige Jahre dauern.

Hier muss auch die Abwehrfunktion einer Haftpflichtversicherung berücksichtigt werden.

Eine Haftpflichtversicherung ist ja auch dazu da, um ggf. unberechtigte Ansprüche an den vermeintlichen Verursacher auch gerichtlich abzuwehren. Im konkreten Fall könnte sich die AXA eben auch auf Ausschlüsse berufen, z.B. ist der Versicherer leistungsfrei bei Schäden, die infolge strafbarer Handlungen des Versicherten entstanden sind, was aber auch erstmal bewiesen werden müsste. Dann stünde Lopavent zwar als verantwortlich und haftend, aber ohne Versicherung da und es könnte nur auf das Vermögen der Lopavent GmbH zugegriffen werden. Und wenn, steht immer noch in Frage, ob sich die AXA tatsächlich darauf berufen würde. Kein Versicherer zahlt gern, wenn er nicht müsste, hier haben wir aber einen noch nie da gewesenen Fall, ich kann also auch nur mutmaßen.

Im Detail ist das alles viel komplizierter und hängt auch von den Ansprüchen an sich ab.

Wäre ich Versicherer, würde ich das so unbürokratisch wie möglich lösen, denn das Öffentlichkeitsinteresse ist gewaltig und hat einen Imageeffekt, der Werbekampagnen eines Versicherers ersetzten kann. Aber die Zuständigen bei der AXA sind in letzter Instanz auch ihren Aktionären verpflichtet, das muss man berücksichtigen. Hätte kein Versicherer hier Versicherungsschutz bestätigt, hätte es die Loveparade nicht gegeben, insofern ist die AXA hier auch betroffen durch die Rechtsbeugung durch die Stadt Duisburg. Hätte man die AXA fragen müssen, ob man mal so einfach die Breite der Rettungswege reduzieren kann, wäre es eventuell anders gekommen. Doch auch die Versicherer haben nicht dieses Spezialwissen, das überhaupt beurteilen zu können und sind auf das rechtlich einwandfreie Zustandekommen einer Genehmigung angewiesen.

Sie sagen, dass eine der wichtigsten Fragen die ist, ob man dem Veranstalter ein Organisationsverschulden nachweisen kann, dass aber die höherwertige Schuld eindeutig die Stadt Duisburg trifft. Weshalb ?

Matthias Glesel: Ein Veranstalter, der seine wesentlichste Pflicht, zu gewährleisten, dass jeder Besucher gefahrlos die Veranstaltung besuchen kann, evtl. sogar mehr als fahrlässig verletzt hat und eine Stadt, die den vermeintlichen Imagegewinn gegen die mehr als berechtigten Bedenken einiger Fachleute auch aus den betroffenen Dezernaten selber skrupellos eintauschte und nicht vor den Veranstalter begünstigenden Genehmigungen zurückschreckte, die elementare Vorschriften zur Sicherheit, wie die Reduzierung der Breite von Fluchtwegen auf ein Drittel der vorgeschrieben Maße zugelassen hat, sind in meinen Augen verantwortlich. Wer in welchem Maße, wird hoffentlich festgestellt, bevor das in Vergessenheit gerät.

Doch entschieden, Gesetze zu beugen hat die Stadt und hat sich unter dem Druck einer

Absage zu einer tödlichen Zusage verleiten lassen.

Eine weitere wichtige Frage wird sein, wer, wen, mit welchen Dienstleistungen beauftragt hatte ? Denken Sie an konkrete Leute, z.B. die beiden Physiker und Stauexperten, Dr. Hubert Klüpfel und Prof. Dr. Michael Schreckenberg und die damit einhergehende sehr hohe Finanzleistung, erbracht – wie alles – von Steuergeldern ?

Matthias Glesel: Ich kann mir kein Urteil über konkrete Personen wie die Angesprochenen anmaßen. Aber eines wird doch ganz deutlich: Eine Stadtverwaltung ist offensichtlich mit der Prüfung der Genehmigungsvoraussetzungen überfordert und es ist richtig, dass Experten hinzugezogen werden. Doch wer sie beauftragt und bezahlt, erhält eine vereinbarte Leistung, die aber unter Umständen nicht zur ganzheitlichen Beurteilung taugt. Wenn ich den Experten frage, wie viel Personen passen auf 110.000 qm, es aber gar nicht die netto tatsächlich zur Verfügung stehende Fläche ist, dann ist die konkret richtige Antwort nicht zweckdienlich. Entscheidend ist also, wer hat was in wessen Interesse beauftragt.

? Wie beurteilen Sie die Tatsache, dass in Deutschland keine gesetzliche

Haftpflichtversicherungspflicht existiert ? Das ist doch skandalös !

Matthias Glesel: Das ist vielen nicht bewusst. Eine Pflicht zur Veranstaltungshaftpflichtversicherung besteht tatsächlich nur bei Veranstaltungen, die öffentliche Flächen nutzen, insbesondere bei motorsportlichen Veranstaltungen. Hier gilt die Verwaltungsvorschrift zu Abs. 2 § 29 StVO.

Die dort geforderten Deckungssummen sind das eigentlich Skandalöse.

500.000 EUR für Personenschäden, 100 TEUR bei Sachschäden, 20 TEUR bei Vermögensschäden sind das geforderte Minimum und das bereits bei Veranstaltungen mit Kraftfahrzeugen.

Hier sehe ich dringenden Handlungsbedarf, wobei viele Kommunen Deckungssummen von 3 Millionen EUR fordern.

? Eine Haftpflichtversicherungssumme von 500.000 Euro reicht gesetzlich aus, habe ich das richtig verstanden ?

Matthias Glesel: Ja, so ist es. Bei „sonstigen Veranstaltungen“ ohne motorsportlichen Bezug beträgt die Untergrenze sogar nur 250 TEUR für Personenschäden.

? Dem deutschen Schadenersatzrecht zu Folge kann man folgendes zynische Fazit ziehen: Tote sind billiger als Verletzte ! Ist das im Ausland genauso ? Wo muss man ansetzen, damit solche und andere Zustände nicht mehr länger Gültigkeit haben ?

Matthias Glesel: Ja, so ist es. Denn für einen Schadensersatzanspruch muss ein Schaden bezifferbar sein und Behandlungskosten über viele Jahre übersteigen die Kosten eines Todesfalls bei Weitem und im Vergleich zu US-Recht bei z.B. Schmerzensgeld ist das schon fast zu vernachlässigen, wobei ich nicht sage, dass wir hier amerikanische Justizverhältnisse brauchen.

Ich denke, eine Erhöhung der Mindestdeckungssummen wäre ein sinnvoller Schritt, der der Praxis der Versicherer folgt, die so niedrige Deckungssummen gar nicht erst anbieten.

? Kennen sich Veranstalter, Städte, Länder, der Bund etc. überhaupt im Bereich der Veranstaltungshaftpflichtversicherungen aus ? Was raten Sie Entscheidungsträgern und all denen, die in Genehmigungsverfahren integriert sind ? Wie kann man verbesserte Verhältnisse schaffen ?

Matthias Glesel: Da muss man differenziert betrachten. In kleineren Gemeinden, die 2 Mal im Jahr einen Antrag auf Genehmigung einer Veranstaltung zu bearbeiten haben, eher nicht.

Das sieht man an den Versicherungsbestätigungen und Veranstaltererklärungen der kommunalen Genehmigungsgremien. Auf der einen Seite verlangt man, dass jeder abgenickte Strauch vom Veranstalter bezahlt wird, auch ohne dass ihn ein Verschulden trifft, auf der anderen liest man nicht mal die eigenen Verwaltungsvorschriften.

Hier wird den Veranstaltern auch viel abverlangt, denn es fehlt an Fachkompetenz, die Qualität des beantragenden Veranstalters zu beurteilen.

Selbst der KSA, der Kommunale Schadensausgleich rät seinen Mitgliedern, die z.B. als Stadt selber Veranstalter sind, nicht die geforderten Erklärungen abzugeben.

Aber woher soll diese Kompetenz kommen ?

? Wie beurteilen Sie die städtische Genehmigungsprozedur und das Verfahren auf Länderebene ? Es ist ja mehr als deutlich geworden, dass es ohne die Landesspitze, die auf diese Veranstaltung angesichts des Kulturhauptstadtjahres mehr als gedrängt haben und gleichsam mehr als mitverantwortlich sind !

Matthias Glesel: Hier hat man sich von der Euphorie dieses Magneten Loveparade anstecken lassen.

Im Rahmen Ruhr Kulturhauptstadt 2010 gibt es ja diverse Events, die von vielen Tausenden zum Gelingen gebracht worden sind und noch werden. Man hat sich hier schlichtweg übernommen, das unbedingt haben zu wollen. M.E. gibt es keinen Ort im Ruhrgebiet, an dem die Loveparade mit ja behauptetem Millionenpublikum hätte stattfinden können.

? Stimmt es, dass vermutlich alles gut gegangen wäre, wenn das Land NRW, also insbesondere dessen Ministerpräsident, Innenminister und Kulturstaatssekretär seiner Pflicht nachgegangen wäre und die Kommune Duisburg von Anfang bis Ende kontrolliert hätte ? Kann man folglich von fehlenden Kontrollen und nicht eingehaltenen Gesetzen sprechen ?

Matthias Glesel: Eine Kontrolle durch das Land hätte eventuell Herrn Sauerlands Wunsch stoppen können, aber das ist Spekulation, die Beugung von gesetzlichen Vorschriften ist ja auch nach unten „verordnet“ worden. Hätte man von Beginn an die Eignung des Geländes geprüft, wäre diese Idee wohl gar nicht weit gediehen.

Trotzdem kann immer ein Vorkommnis entstehen, selbst bei vermeintlich perfekt geplanten Veranstaltungen. Hier hätte es die Veranstaltung gar nicht erst geben dürfen.

? Hat die tatsächliche Besucherzahl eigentlich irgendeine Relevanz ?

Matthias Glesel: Nicht wirklich für die Versicherung. Bei Einzelversicherungen, die vielfach nach Besucherzahl von der Haftpflichtversicherung kalkuliert werden, wird die Besucherzahl gern nach unten geschätzt. Hier war das nebensächlich. Eigentlich müsste man vom Fassungsvermögen der Veranstaltungsstätte ausgehen und da wurde ja schon viel dran manipuliert. Für die Presse 1 Million Besucher, für die Versicherung 220.000, für die GEMA 300. So läuft das oft.

? Auf der Ostseite vor dem östlichen Tunnel existieren seit dem 24. Juli etwa fünf sehr starke Trampelpfade, die nicht Hunderte Besucher genommen hatten, sondern der Stärke ihres Austritts nach, Tausende. (Gut zu erkennen gewesen an den typischen Hinterlassenschaften, die aber später entfernt wurden.) Sie befinden sich an der steilen Böschung zwischen Hecken und Büschen auf der Wiese am Ende der Kommandantenstr. Veranstalter und vor allem die Stadt, die auf dem Gehweg unmittelbar vor der Böschung Zäune aufgestellt hatten und verantwortlich für diesen Bereich war, hatten natürlich kein Interesse an den in ihren Augen „illegalen“ Zuwegen. Sie wurden benutzt, da sie eine riesige Abkürzung darstellten. Hier konnte man sämtliche Sperren und besonders die Schleusen umgehen, hatte somit Stunden gespart; folglich war man früher am Ziel als Stadt und Veranstalter einkalkuliert hatten = umso früher und umso mehr und vielleicht sogar massiv abweichend von den offiziellen Zahlen. Vielleicht auch ein Grund dafür, warum uns die Bilder von Lopavent-Kamera Nr. 17 vorenthalten werden, da sie dies belegt haben müssten. Ist dies in Versicherungshinsicht von Belang?

Matthias Glesel: Nein. Wer sich hier beim nicht Notfall bedingten Abkürzen verletzt, trägt ein erhebliches Mitverschulden. Das wäre auch kein hinreichender Grund zur Versagung von Versicherungsschutz. Sicher ein Organisationsfehler, der hätte abgestellt werden müssen, ich sehe aber keinen direkten Bezug. Für einen möglichen Schaden an Straßen bzw. Grünanlagen könnte die Stadt den Veranstalter aber zum Schadensersatz heranziehen, das wäre ein anzunehmend unversicherter und nahezu unversicherbarer Schaden. Natürlich wäre dieser Aspekt ein weiterer Beweis für die fehlende Kompetenz des Veranstalters, bzw. der Stadt.

? Die Tatsache, dass erst noch zwei Stunden das Gelände planiert wurde könnte man ja auch als Verzögerungstaktik werten, da ja u.U. wirklich bereits zwischen 10 und 12 Uhr mehr Menschen vor Ort waren als geplant und des Weiteren zu erwarten bzw. sogar bekannt war (aufgrund der Besucherzahlen, die die Bundespolizei gemeldet hatte), dass bereits weit vor 14 Uhr mehr vor Ort, in der Stadt und am Bahnhof waren. Dass also absehbar war, dass zu schnell 250.000 Personen bzw. mehr auf das Veranstaltungsgelände (also auf den Bereich, für den der Veranstalter verantwortlich war) gelangen würden. Ich meine damit, dass sich bewusst für ein „Staukonzept“ entschieden haben könnte, um so die Massen möglichst zeitverzögert hinauf zu lassen. Ist das denkbar ?

Matthias Glesel: Ja, ich denke, dass auch viele vorhandene Dokumente diese Verzögerungstaktik belegen, die Steuerung solcher Menschenströme ist sehr schwer und auch hier zeigt sich Überforderung und mangelnde Kapazität, Herr Schaller sprach da live vor Journalisten bereits stolz von einer Million, Tendenz zunehmend ! Das real hätte Duisburg regelrecht gesprengt. Die Dimension einer Loveparade, eigentlich ja nur ein Innenstadt-Konzert auf einer Industriebrache, ob mit 220.000 oder 500.000 Besuchern war einfach eine Nummer zu groß für Duisburg, man hat zwar Fallszenarien durchgespielt, die aber alle in der Realität weit dramatischer ausfielen, als angenommen.

? Sie sagen, dass es zwischen dem Versicherer und den Krankenkassen ein Teilungsabkommen gibt. Können Sie das bitte erklären !

Matthias Glesel: Neben dem Soforthilfefonds wird die AXA, da sie mit den Sozialversicherungsträgern Teilungsabkommen unterhält und das ist ein übliches Verfahren der Haftpflichtversicherer, basierend auf § 116 SGB X, die Behandlungskosten auch ohne Verschuldensnachweis tragen müssen. Hier wird zur Beschleunigung auf die Klärung der Haftungsfrage verzichtet, wenn Kausalität zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Schaden anzunehmen ist.

Es ist also davon auszugehen, dass diese 7,5 Milllionen EUR hier nicht ausreichend sein werden.

? Wie hoch hätte die diesjährige Loveparade idealer Weise versichert sein müssen ?

Matthias Glesel: Ja, wie hoch ? Es wird mit ca. 22-25 Millionen EUR Gesamtkosten gerechnet, wobei die Behandlungskosten der Rettungskräfte, deren psychologische Betreuung und Spätfolgen kaum kalkulierbar sind.

Das hängt ja auch von der tatsächlichen Schuldzuweisung durch die Justiz ab.

Trägt die Stadt 50% und der Veranstalter 50%, dann reden wir von einer Deckungslücke von 3,5-5 Millionen EUR beim Veranstalter, aber auch das ist Spekulation.

Hätte der Veranstalter denn überhaupt eine so hohe Deckungssumme bezahlt ?

? Die 7,5 Millionen Euro, mit denen diese „Veranstaltung“ versichert wurde, für wie viele greift diese Summe ? Kann man sagen, dass diese Summe pro Kopf umgeschlagen wurde, also ausgehend von 250.000 Personen = 30 Euro pro Kopf Versicherungssumme bzw. anteilmäßig für 485.000 Personen = 15,46 Euro ? Entspricht das dem Wert eines Menschen ? Sind folglich Veranstaltungshaftpflichtversicherungen = Personen(wert)versicherungen ? Oder böse gefragt: Was kostet ein getöteter, was ein verletzter Veranstaltungsbesucher ?

Matthias Glesel: So funktioniert Versicherung nicht. Es ist immer eine mathematische Frage der Wahrscheinlichkeit, also der Statistik.

Wie realistisch ist es, dass 100% der Besucher verunglücken ?

Ein Reisebusunfall, bei dem 30 von 35 Fahrgästen verletzt werden, ist wahrscheinlicher, dort greift die KFZ- Haftpflicht mit 100 Millionen EUR und das hat seine Berechtigung.

Wenn Sie die 7,5 Millionen EUR auf 500 verletzte Personen umrechnen, sind das 15 TEUR je Person und vermutlich nicht genug.

Ich möchte den Wert von Personen nicht nach diesem Teiler bemessen, bitte sehen Sie mir das nach.

Versicherung ist ja auch nicht immer die Lösung. Versicherung ist ja im Schadensfall gefragt, die Vorbeugung hat Vorrang.

? Was könnte an Kosten auf die Stadt Duisburg bzw. auf ihre Steuerzahler zukommen ?

Matthias Glesel: Wenn die Stadt Duisburg Mitschuld trägt, dann entsprechend der Zuweisungsquote.

Aufgrund der Haushaltssituation sehe ich dann das Land in der Pflicht, unterm Strich sind es wohl wieder die Steuerzahler.

Nehmen wir wieder die 22-25 Millionen EUR, die diskutiert werden und 50% Zuweisungsquote, dann bleiben dort 11-12,5 Millionen EUR Kosten. Ob Duisburgs Mitgliedschaft im Kommunalen Schadensausgleich Westdeutscher Städte in Bochum dort zu einer Eintrittspflicht führt, ist mir nicht bekannt.

? Welche Konsequenzen ziehen bereits jetzt Städte, Veranstalter und Versicherer ? Welche Maßnahmen zog man z.B. am Abend des 24. Juli in Berlin ? An dem Tag fand doch auch bei Ihnen eine größere Veranstaltung statt.

Matthias Glesel: Am 24.07. fand am Brandenburger Tor der „Olympic Youth Day“ statt, die Organisatoren waren von den Duisburger Ereignissen zeitnah informiert, sicherlich und sichtlich betroffen, haben aber ihre Veranstaltung zum Wohle der Besucher und aktiven Sportler professionell durchgeführt.

Die Sicherheitskonzepte werden seitdem mehrfach überprüft, nachgebessert, beanstandet, abgelehnt. Teils werden auch Genehmigungen zurückgezogen, oder mal begründet, mal unbegründet nicht erteilt. Viel davon ist blinder Aktionismus, der mehr schadet , als er nützt.

Die vorhandenen gesetzlichen Regelungen sind ausreichend, sie müssen nur konsequent angewendet und deren Umsetzung kontrolliert werden.

Das wird auch so beim Innenausschuss des Bundestages so gesehen.

Es gibt viele hervorragende Veranstalter und tausende professionelle Dienstleister, die täglich dafür sorgen, dass jede Veranstaltung zu einem positiven Erlebnis wird.

Das darf durch wenige Schwarze Schafe nicht zerstört werden.

? Was muss sich zukünftig in Deutschland ändern ?

Matthias Glesel: Die kleineren Gemeinden brauchen Fachkompetenz, um Anträge auf Erteilung einer Genehmigung besser beurteilen zu können, die Gelegenheitsveranstalter gerade auch aus dem gemeinnützigen Bereich, die mit vielen engagierten ehrenamtlichen Helfern und selten den Finanzen für eine Eventagentur ihre Veranstaltungen planen, benötigen Qualifikation, denn ein Veranstalter haftet immerhin nach bis zu ca. 80 verschiedenen Vorschriften.

Wie wäre es mit einer beruflichen Mindestqualifikation ? Bisher kann jeder eine Gewerbeanmeldung als Veranstalter bekommen. Auch die Städte leisten sich keine Fachkräfte. Hier liegt der Schlüssel zur Vermeidung solcher Katastrophen.

Herr Glesel, wir bedanken uns für dieses Interview.

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