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Über die Loveparade und den Staat

Kraft zur Tragödie
Hannelore Kraft

Dominic Herzberg nennt sein Blog „Berlin Now!“ Er und es kommen – so der Untertitel – „fast aus Berlin“, nämlich aus Wolfsburg. Herzberg schrieb gestern über die „Betroffenheitsgala in Duisburg“ – so der Titel seines Textes.
Darin machte er diese Beobachtung: “Denn heute erreichte die Betroffenheitsgala vor Ort ihren Höhepunkt. Alle sind sich einig, Hannelore Kraft war ,den Tränen nahe´.“ Und so gelangte er zu der Analyse: „So ist die ganze Veranstaltung nur eine große Bühne für ein paar Politiker, um sich von ihrer menschlichen Seite zu zeigen.“
Dominic Herzberg ist ein kritischer Geist. Wenn sich alle einig sind, ist er noch lange nicht dabei. Nun war – was auch dem Kritiker aufgefallen sein dürfte – Hannelore Kraft während ihrer Rede "Uns alle lässt das Geschehene nicht los" tatsächlich den Tränen nahe. Seine Analyse, dass es sich dabei um Schauspielerei gehandelt haben müsse, mochte Herzberg dann doch nicht ausdrücklich in seinen Text schreiben.
Es blieb dann Alexander Dobrindt, dem Generalsekretär der CSU, vorbehalten, Hannelore Kraft als „das faulste Ei in der deutschen Politik“ zu bezeichnen. Er bezog diesen bajuwarischen Biertischspruch zwar auf seinen Rote-Socken-Vorwurf, gab ihn aber mit Bedacht zeitgleich mit Krafts Trauerrede zum Besten.

Jedoch: bei diesen Bewertungen aus München und aus Wolfsburg handelt es sich um Ausnahmen, um Außenseiterpositionen. Dass Detlef Obens hier auf xtranews ganz anders empfunden hat, mag für sich noch nicht viel bedeuten. „Auf diese Worte haben viele von uns – nicht nur, aber auch die Angehörigen – eine Woche warten müssen“, schrieb er.
Nun wäre es zwar vollkommen absurd, Obens hierbei parteipolitische Motive zu unterstellen; aber man weiß ja nie. Deshalb verweise ich auf die aller sozialdemokratischen Neigungen völlig unverdächtige „Welt“; hier schreibt C.C. Malzahn:

„Hannelore Kraft traf im Zusammenhang von Trost und Aufklärung in der Duisburger Salvator-Kirche als erste Politikerin endlich jenen Ton, den wir in der vergangenen Woche bei den Organisatoren und mittelbar Verantwortlichen der Loveparade so schmerzlich vermisst haben. Mit bewegter Stimme, nah am Wasser gebaut, leistete sie auf überzeugende Weise das, was ein verantwortlicher Politiker in solchen Stunden eben leisten muss: auf mitfühlende Weise Führung und Verantwortung übernehmen. Sie hat das Leiden der Hinterbliebenen auf angemessene Weise zu ihrer Sache gemacht.“

Dominic Herzberg wird sich vermutlich von der „Welt“ nicht in seiner Einschätzung korrigieren lassen, in Duisburg habe gestern nichts weiter als eine „Betroffenheitsgala“ stattgefunden. Denn ich befürchte, dass er die Katastrophe vom 24. Juli nicht in ihrer ganzen Dimension erfasst hat.

Warum hat diese Tragödie denn nicht nur Duisburg in eine „Schockstarre“ versetzt, sondern das ganze Land eine Woche lang gelähmt? Weil es 21 Tote gegeben hatte? Weil die Menschen aus unerfindlichen Gründen Bock auf eine „Betroffenheitsgala“ hatten? Weil sich hier allem Anschein nach auch der ein oder andere Politiker nicht korrekt verhalten hatte?
Ganz offensichtlich ist mit diesen Mustern allein das allgemeine Entsetzen nicht hinreichend zu erklären. Inzwischen ist gar die Rede davon, der Schock vom 24. Juli 2010 sei stärker als der vom 11. September 2001. Dies mag dahingestellt bleiben. Doch zweifellos haben wir es mit einer grundsätzlichen, um nicht zu sagen: existenziellen Erschütterung zu tun.
Politikverdrossenheit, Politikerverdrossenheit, Parteienverdrossenheit – wie man dies alles so nennt – sind lange bekannte Begleiter. Mit einer Enttäuschung über „die“ Politik oder „die“ Politiker ist die allerorten aufzufindende Fassungslosigkeit schon allein deshalb nicht zu erklären. Die Menschen sind gar nicht von „den“ Politikern enttäuscht, sie waren doch lange vorher schon „verdrossen“.

Aber es war „ihr“ Staat; für die Duisburger war es „ihre“ Stadt. Politik, Politiker und Parteien mögen den Menschen suspekt gewesen sein; die Obrigkeit war es nicht. Die Vorgänge, die zur Katastrophe vom 24. Juli geführt hatten, und das unverantwortliche Verhalten der Verantwortlichen sind geeignet, dieses grundlegende Vertrauen in den Staat zu erschüttern.
Auch dieser grundsätzliche Glauben an die staatliche Ordnungsmacht ist nicht unendlich belastbar, wie in der zurückliegenden Woche das Verhalten einiger Duisburger Bürger städtischen Angestellten gegenüber in erschreckender Weise belegt hat. Nach der Politikverdrossenheit droht die Staatsverdrossenheit.
Man kann, wie Christian Wulff, Deutschland lieben. Man kann dies auch, wie Gustav Heinemann, aus prinzipiellen Erwägungen heraus lassen. Man kann freilich auch dem Staate Feind sein.
Ich kenne Dominic Herzberg nicht. Ich meine verstehen zu können, warum ihn diese, wie er sich ausdrückte, „Betroffenheitsgala“ nicht erreicht hatte. Vielleicht irre ich mich; vielleicht hat Herzberg diesen Aspekt schlichtweg nur übersehen. Für jeden Staat, für Deutschland in besonderem Maße, ist ein Grundkonsens unerlässlich – zumindest bezüglich der zivilisatorischen Standards, zumindest über die Verantwortung für Leib und Leben.

Deshalb war es so wichtig, dass die Staatsspitze und die Repräsentanten der „politischen Klasse“ sich in der Salvatorkirche versammelt hatten, und dass Hannelore Kraft in eindrucksvoller Weise die richtigen Worte gefunden hatte. Andernfalls hätte die Katastrophe von Duisburg durchaus das Zeug zur Staatskrise gehabt.
Der Samstag hat die Essentials wieder vor Auge gerückt. Er hat nicht, und er konnte es auch nicht, die grundsätzlichen Fragen nach den Ursachen und Folgen beantworten können. Was die Folgen betrifft:
Egal, wie man zu den Deutschen stehen mag, durchaus zu Recht standen sie im Ruf, in Sachen Organisation, Logistik und Sicherheit zu den Besten der Welt zu gehören. Und jetzt das! Die FTD schreibt über das Echo in der Auslandspresse:
“Unter den 21 Opfern der Loveparade sind mindestens sieben ausländische Besucher. In den internationalen Medien findet die Tragödie entsprechend viel Beachtung. Der Mythos von den gut organisierten Deutschen wackelt.“

Und was die Ursachen betrifft, wird es auf Dauer nicht reichen, auf Adolf Sauerland zu zeigen. Denn „am Drama der Loveparade haben viele mitgeschrieben“, wie Annika Joeres bei den Ruhrbaronen ganz zutreffend feststellt. Hier „gingen die Interessen von Stadt, Land und Veranstaltern alle in die gleiche Richtung. Es gab keine unabhängige Instanz, die dieses Interessenbündnis hätte stoppen können“, schreibt die FTD-Redaktion als Leitartikel, der ihre gemeinsame Position wiedergibt.

Jeder, der im Vorfeld den Hype um die Loveparade auch nur oberflächlich verfolgt hatte, weiß, dass genau hier der Kern des Problems gelegen hat … und liegt. Dies relativiert die Schuld von niemandem. Doch wenn eine Wiederholung dieser Tragödie ausgeschlossen werden soll, wenn das Vertrauen in die Kernkompetenz des Staates wiederhergestellt werden soll, ist an dieser Einsicht anzuknüpfen.

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