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Jerusalem – ein Buch mit Innenansichten

Er ist ein wenig in Vergessenheit geraten, der 9. August 2001 in Jerusalem. Schließlich folgte gut einen Monat später der 11. September in New York (und Washington), zugegebenermaßen eine ungleich größere Katastrophe, eine ungleich größere Zäsur. Die Rede ist von Terroranschlägen, von Massakern an der Zivilbevölkerung. Und mit dem 11. September konnte der 9. August “nicht mithalten”.

Am 9. August 2001, etwa ein dreiviertel Jahr nach Beginn der sog. „Zweiten Intifada“, sprengte sich in einer voll besetzten Pizzeria in der Jerusalemer Altstadt ein 23-jähriger Selbstmordattentäter in die Luft und tötete15 Menschen, darunter viele Kinder. Etwa 100 Menschen erlitten schwerste Verletzungen.

Ulrich W. Sahm, vielen als Nahost-Korrespondent bspw. für n-tv bekannt, berichtet seit 1970 in Bild und Text aus Jerusalem. Ihm stellte sich der 9. August 2001 wie folgt dar:

„14:02 Uhr. Anruf meiner Frau aus dem Stadtzentrum. »Bombe. Alle sind aufgeregt. Hat laut geknallt.« Ich rufe n-tv an, ohne Genaues zu wissen: Terror. Neben mir, in einem ganz anderen Viertel von Jerusalem, heulen Sekunden später die Sirenen der Polizeiwagen und rasen in Richtung Stadtzentrum. Zigaretten-Einkauf am Kiosk, um nicht auf dem Trockenen zu liegen. Wieder Anruf beim CVD (Chef vom Dienst). Inzwischen berichtet Radio: »Sehr viele« Tote, Verletzte. Hab kaum Infos. CVD ruft an: »Herr Sahm. Ich stell sie sofort zur Regie.« Der Moderator stellt seine erste Frage. Ich steuere verzweifelt das Auto in Richtung Bushaltestelle. Mache Schalte (= Live-Bericht) per Handy, rede weiter, fahre in Richtung Heim, Schalte dauert an. Parke Auto zu Hause. Schalte dauert an. Meine Frau kommt aus Stadtmitte. Sie will ihr Überleben schildern. Ich immer noch bei der Schalte. Frau öffnet polternd Autotür. Ich fuchtel, Frau soll Mund halten. Immer noch Schalte. Schließe Auto ab und renne mit Handy-Schalte ins Haus. Begrüßung der Hunde, zum Glück ohne großes Gebell. Schalte beendet …“

Selbstverständlich geht der Bericht noch weiter, unter der Überschrift: „Ein halber Tag im Leben eines Kriegsreporters“. Ich will nicht zu viel verraten; nur soviel: es ist in den nächsten Stunden nicht wesentlich ruhiger geworden. Wie gut, dass Ulrich Sahm daran gedacht hatte, bevor es richtig losging, sich noch Zigaretten zu beschaffen!

Aber es finden sich auch ganz andere Kapitel in dem Buch. Kapitel, die von Tagen erzählen, die ganz anders verlaufen sind. Ach so, das Buch:

Ulrich W. Sahm:
Alltag im Gelobten Land
Mit einem Geleitwort von Henryk M. Broder

1. Auflage 2010
240 Seiten mit 90 Abb., kartoniert
19,90 € [D]
ISBN 978-3-525-58014-1

Sahms Buch erlaubt aus der Insider-Perspektive einen tiefen Einblick in das Alltagsleben in Israel, heißt es im Klappentext: „Dabei stehen Kriegsschrecken neben archäologischen Sensationen, kulinarische Entdeckungen neben politischen Absurditäten. Eine Vielzahl plastischer, oft auch skurriler Beispiele illustriert neben zahlreichen, in jedem Sinne farbigen Abbildungen die Kernbotschaft des Bandes: Nur gemeinsam werden die Bewohner dieser Jahrtausende alten Kulturlandschaft eine Lösung ihrer Probleme finden; Respekt füreinander, Kenntnis voneinander und nicht zuletzt Humor im Umgang miteinander sind wichtige Eckpfeiler in diesem Prozess.“

Neunzig Abbildungen. Mich haben Fotos aus dem Jahr 1991 sehr nachdenklich gestimmt. Während des Golfkriegs beschoss der Irak Saddam Husseins das völlig unbeteiligte Israel mit Scud-Raketen. Vierzig Raketeneinschläge, zwei Tote, besonders heimtückisch allerdings: Saddam ließ ganz gezielt im Unklaren, ob die Sprengköpfe mit Nervengas ausgestattet waren. Und 1991 verfügte der Irak zweifellos über C-Waffen.

Sie kamen bei den Raketenangriffen auf Israel nicht zum Einsatz. Doch das wusste man erst hinterher. Also wurden Gasmasken an die israelische Bevölkerung ausgegeben und bei den Luftangriffen Giftgasalarm ausgelöst. Die Fotos zeigen den – entsprechend jüngeren – Ulrich Sahm mit einem Kleinkind, seiner Tochter. Die Gasmaske auf dem Gesicht. Bei Alarm musste alles sehr schnell gehen. Da vergisst man schon mal, den Plastikverschluss von dem Luftfilter zu entfernen. Sahms Tochter begann zu zappeln und zu zucken; ihre Eltern waren dann so freundlich und haben die Verschlusskappe doch noch ab gemacht.

Das Geleitwort zum Buch stammt vom bekannten Publizisten Henryk M. Broder. Und da Sahm der „Saurier unter den Nahostreportern“ ist, trägt es den hübschen Titel „Sahm, der Saurier“. Unsereins kennt Ulrich Sahm ja nur aus dem Fernsehen; in der Tat: er war „der Erste, der eine Webcam benutzte, die er auf seinen Schreibtisch montiert hatte“. Und so sah man ihn dann aus n-tv in etwas zerhackten Bildern – „via ISDN“, wie der Sender gleichsam als Entschuldigung einblendete.

Aber Broder hatte Sahm wohl näher kennen gelernt. Er schreibt: „Er regte sich immerzu auf, und zwar wirklich. Schon äußerlich eine Mischung aus Käpt’n Blaubär und Räuber Hotzenplotz ließ er seinem Ärger und seiner Wut freien Lauf. Entweder über die Dummheit der israelischen Regierung, wozu es immer genug Anlässe gab, oder über die Dummheiten der Korrespondenten, die genau wussten, wie der israelisch-palästinensische Konflikt gelöst werden müsste, den sie an der Bar des Hotels »American Colony« hautnah miterlebten.“

So steht zu vermuten, dass auch Sie nicht das Patentrezept für eine Lösung des Nahostkonflikts parat haben werden, wenn Sie das Buch von Ulrich Sahm gelesen haben. Sie sollten es dennoch tun. Es bietet wirklich einen tiefen Einblick in den israelischen Alltag, und: es ist einfach klasse geschrieben.

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