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Martin Walser: Seine Tagebücher und seine Schmerzen

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Image via Wikipedia

Soeben ist ein weiterer Band erschienen, in dem Martin Walser seine Tagebücher verarbeitet. Diesmal geht es um die Jahre 1974 bis 1978. Also wird die Werbetrommel gerührt und dem Spiegel ein Interview gegeben. Das erscheint morgen; doch im Internet haben wir schon eine Vorabmeldung. Darin heißt es:

Der Schriftsteller Martin Walser, 82, (beschreibt) die Umstände, die zu seinem Zerwürfnis mit dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki geführt haben. Reich-Ranicki hatte 1976 Walsers Buch „Jenseits der Liebe“ als „belanglosen Roman“ verrissen. Walser fühlte sich, so sagt er heute, aus dem Reich der Dichter ausgewiesen: „Solch eine Machtausübung, die einem so weh getan hat, erlischt nicht.“
Belangloser Roman – stellen Sie sich das nur einmal vor! Ganz klar: so etwas tut weh. Gerade wenn sie mit solch einer Macht ausgeübt wird. Oder so. Ja, ich weiß auch nicht so ganz genau, wie der Schriftsteller hier jetzt die Schrift gestellt hat:  „Solch eine Machtausübung, die einem so weh getan hat, erlischt nicht.“ Aber es ist doch klar, was Walser meint: er war und ist sowas von sauer auf diesen Reich-Ranicki, dass er nicht beabsichtigt, ihm dieses Leben noch zu verzeihen. Das hat er jetzt von seinem belanglosen Roman!
Walser habe Reich-Ranicki damals ohrfeigen wollen, steht da dann auch noch. Hat er aber nicht. Aber gut, dass er es jetzt endlich einmal erzählen konnte! Es bringt ja nichts, wenn man den ganzen Ärger mit ins Grab schleppt.

Das von mir so überaus geschätzte Intellektuellen-Magazin „Cicero“ hatte 2007 eine Liste der 500 wichtigsten deutschsprachigen Intellektuellen veröffentlicht. Und falls Sie darin nicht berücksichtigt worden sein sollten: machen Sie sich nichts draus! Ich stehe auch nicht drin. Macht nichts; ich kann auch ganz gut mit Platz 501 leben.
Aber jetzt raten Sie mal, wer auf Platz 1 steht! Richtig, der Papst; da kann man nichts machen. Gegen den kommt keiner an. Also, Benedikt XVI oder Joseph Ratzinger an der Spitze. Aber dann, schon direkt hinter dem Stellvertreter Gottes auf Erden: Martin Walser. Na, das nenne ich mal eine Leistung.
Ich nehme an, dass es Walser nicht zuletzt wegen seiner sagenumwobenen Rede am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche auf den zweiten Platz geschafft hat.
Die NS-Verbrechen würden, so fasst Wikipedia zusammen, von einigen Leuten dazu missbraucht werden, den Deutschen weh zu tun oder gar um politische Forderungen zu stützen. Und so etwas darf nun einmal nicht sein! Schließlich kann sich der deutschsprachige Intellektuelle Nummer Zwei noch allzu gut daran erinnern, wie ihm so ein machtausübender jüdischer Kritiker sehr weh getan hat.

Sehen wir uns Walsers Rede im Original an. Dort steht: „Die, die mit solchen Sätzen auftreten, wollen uns wehtun, weil sie finden, wir haben das verdient.“ Der Satz bezieht sich auf die Anregung, eine Würstchenbude vor einem brennenden Asylbewerberheim aufzustellen. Eine gewiss sehr sarkastische Bemerkung, die nur erklärlich wird, wenn man sich vor Augen hält, was im August 1992 im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen passiert ist.
Tagelang dauerte der Pogrom gegen die mehr als hundert Vietnamesen, in dessen Verlauf die Unterkunft angezündet wurde. Mehr als 2000 Schaulustige verfolgten begeistert, wie Menschen mit dem Tod rangen – darunter auch ein ZDF-Reporter.
Martin Walser tut so etwas weh. Wohlbemerkt: nicht dass sich in Deutschland ein Pogrom ereignet, sondern dass Jürgen Habermas in der „Zeit“ unterstellt, die sympathisierende Bevölkerung (habe) vor brennenden Asylantenheimen Würstchenbuden aufgestellt.

Allerdings: diese Kleinigkeit war nicht der große Aufreger in Walsers Paulskirchenrede. Dafür musste er schon direkt auf Auschwitz zu sprechen kommen. Und Sie wissen ja: sowas ist nicht leicht in Deutschland. Selbst Walser musste all seinen Mut zusammen nehmen, „weil ich jetzt wieder vor Kühnheit zittere, wenn ich sage: …“
Na, wissen Sie noch, was er gesagt hatte. Hier, einfach genial:
„Auschwitz eignet sich nicht, dafür Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung.“
Wikipedia schreibt: „Walsers Rede war im Anschluss allgemein von den Anwesenden applaudiert worden, mit Ausnahme von Ignatz Bubis und dessen Frau, wie Fernsehbilder zeigen. Der Zentralratsvorsitzende der Juden in Deutschland warf Walser vor, wegsehen zu wollen.“

Im Jahr 2002 erschien Walsers Roman „Tod eines Kritikers“. Gemeint war Marcel Reich-Ranicki, der auch heute zwar immer noch lebt, aber der, wie eingangs erläutert, 1976 Herrn Walser so sehr wehgetan hat. Da durfte der sich wundern, der Reich-Ranicki. Da ist es mit einer Ohrfeige nicht mehr getan; da wird man als Mensch wie als Symbol einer unredlichen Kulturszene niedergemacht.
Ich habe meine wertvolle Zeit nicht damit verplempert, dieses Machwerk zu lesen. Frank Schirrmacher jedenfalls hält es für antisemitisch. Ich weiß es nicht; aber ich halte es für möglich. Ich habe nämlich den Wikipedia-Eintrag zu Martin Walser bis zum Ende gelesen. Das bislang Dargelegte war mir in etwa bekannt; aber diese Geschichte kannte ich wirklich noch nicht:

In einem offenen Brief an Ignatz Bubis, vom 12. Januar 1999, in der Schweizer Wochenzeitung übermittelt Günter Amendt eine Anekdote aus dem Jahre 1978. In jenem Jahr, so Gunter Amendt, habe er auf Einladung des Konzertveranstalters Dylan und seine Band begleitet.
Auch habe er sich seit vielen Jahren mit der Rezeption von Bob Dylans Werk in den bundesdeutschen Medien, dabei insbesondere der Betonung eines antisemitischen Stereotyps, beschäftigt: „Dass man gerade bei Dylan die materiell-finanzielle Seite des Rock ’n’ Roll so oft, so gerne und so ausführlich thematisiert”. Nach Abschluss der Tournee sei er in der Konkret-Redaktion auf Martin Walser getroffen. Der aber habe „nicht ohne einen aggressiven Unterton” gefragt, „was eigentlich an diesem ‘herumzigeunernden Israeliten’ Besonderes wäre.”

Bob Dylan, der herumzigeunernde Israelit, hatte 1978 auf dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg ein religiöses Erweckungserlebnis, weil jemand aus dem Publikum ein kleines silbernes Kreuz auf die Bühne warf, und macht seitdem den erleuchteten Christen. Alle möglichen Alben, die unseren Herrn Jesus loben, folgten. Das hatten schon ganz Andere versucht. Nützt aber nichts, nützt gar nichts, schon gar nicht bei Martin Walser.
Wir erinnern uns: „Solch eine Machtausübung, die einem so weh getan hat, erlischt nicht.“ Es gibt nun einmal Dinge, die kann man nicht vergessen. Belangloser Roman, eine Frechheit! Walser wird sich bis zu seinem Ende damit dranhalten. Die Erinnerung an andere, sagen wir mal: kleinere Ungerechtigkeiten geht ihm allerdings mit der Zeit auf den Keks.
„Wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, dass sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen.“

So sprach Deutschlands Intellektueller Nummer Zwei dereinst in der Paulskirche. Die Anwesenden applaudierten. Die höchsten Repräsentanten von Staat und Gesellschaft waren froh, dass endlich mal einer – vor Kühnheit zitternd – …
Klar, der Jude hatte nicht geklatscht. Logisch. Dazu keine Fragen. Aber darum geht es morgen im neuen „Spiegel“ auch gar nicht. Die Tagebücher 1974 bis 1978 stehen zur Debatte. Morgen im Interview – „Spiegel“-Leser wissen mehr.

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